Bernard C. Kolster

Du bist dein eigener Therapeut


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Es scheint gerade so, als wären die meisten Versuche zur Abhilfe unwirksam (Oliveira et al. 2018). Wir fragen die Patienten, wie denn ihre Versuche, die Beschwerden zu reduzieren, ausgesehen haben. Der ärztliche Erstkontakt wird regelmäßig als Start erwähnt, gefolgt von der Überweisung zum Physiotherapeuten. Der Arzt stellt eine meistens eher als „nichtssagend“ einzustufende Diagnose wie etwa das „LWS-Syndrom“ fest. Nur sehr selten findet der Arzt einen Bandscheibenvorfall, eine Fraktur der Wirbelsäule, eine gefährliche Infektion oder eine schwerwiegende Erkrankung der Wirbelsäule, wie z. B. Morbus Bechterew (Statista 2017, Oliveira et al. 2018). In der Physiotherapie werden dann anschließend die Wirbel der Wirbelsäule mobilisiert, massiert oder getriggert. Manchmal nehmen die Schmerzen ab, doch häufig nicht mal das. Stattdessen kommen die Beschwerden zurück und meistens bleibt das Muster deines Alltags das Gleiche: Der Beruf stresst, die Familie braucht Hilfe und der Sport wird immer weiter reduziert.

      Wie häufig kommst du zur Physiotherapie und wirst nach deinen alltäglichen Lebensumständen befragt? Nie? Wird stattdessen erst einmal deine Wirbelsäule mobilisiert, oder werden deine unterschiedlich langen Beine mit einem kräftigen „Dranziehen“ bearbeitet? Wenn das so ist, bleiben die heute bekannten Ursachen von Rückenbeschwerden „außen vor“ und die entsprechenden Therapiemethoden ungenutzt. Und das ist der Punkt: Heutzutage wissen wir um die Komplexität der Rückenschmerzen viel besser Bescheid als noch vor einigen Jahren. Häufig sind die Methoden und Empfehlungen zur Therapie von Rückenbeschwerden überholt und nicht mehr zutreffend.

      Wir wissen inzwischen, dass vor allem der Lebensstil und die Einwirkungen des alltäglichen Umfelds für die Entstehung der Rückenbeschwerden zu nennen sind. Dies bestätigen zahlreiche Forschungen (Statista 2017, Oliveira et al. 2018). Doch was heißt das? Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die fast ausschließlich mit der Perfektion des Alltags einhergeht. So geht es z. B. um die herausragende berufliche Leistung, den „zielführenden“ Umgang mit Freundschaften, die perfekte Familie oder das Immer-besser-Werden im Sport. Was fehlt, ist das gesunde Maß. Das bezieht sich auf die Verarbeitung von einwirkenden Reizen von außen, die sich stattdessen zum Stress steigern und eben nicht mehr „gesund“ verarbeitet werden. Damit verbunden sind meist auch die Reduktion entspannender und ausgleichender Aktivitäten, wie z. B. Bewegung, und eine energieraubende anstatt einer gesunden Verarbeitung von Sorgen. Fehlinformationen über die Belastbarkeit der Wirbelsäule oder die im Zusammenhang mit Rückenbeschwerden oft erwähnten Risiken steigern den negativen Verarbeitungsprozess noch (Dima et al. 2013). Warum dies expliziert erwähnt wird? Weil es an der Zeit ist, mit alten Mythen aufzuräumen und dir die nachhaltige Form der Therapie von Rückenschmerzen für den Eigengebrauch zu ermöglichen.

      imagesZehn Mythen über Rückenschmerzen

      Mythos 1

      Rückenmassage oder das „Einrenken“ von Wirbelgelenken behebt die Ursache der Beschwerden!

      Falsch! Hierbei handelt sich lediglich um eine Behandlung der Symptome, in dem Fall „Schmerz“. Die Umstände und Reize, wie Stress, Bewegungsarmut, muskuläre Schwächen oder einfach die Angst vor Schäden an der Wirbelsäule durch z. B. das Heben, werden dabei nicht berücksichtigt (Alt et al. 2020).

      Mythos 2

      „Blockierte“ Wirbelgelenke oder ein „blockiertes“ Kreuzdarmbeingelenk entsprechen Wirbelsäulenverletzungen!

      Falsch! Die Wirbel und auch das Kreuzdarmbeingelenk müssen eine gewisse Stabilität, also „Blockierung“, besitzen, um Kräfte übertragen und das Skelett stabilisieren zu können (Oliveira et al. 2018).

      Mythos 3

      Ausgerenkte Wirbelkörper lassen sich jederzeit vom Arzt oder Physiotherapeuten „einrenken“!

      Falsch! Wenn ein Wirbel tatsächlich ausgerenkt ist, kommt dies einem medizinischen Notfall und einem Fall für die Intensivstation gleich. Ohne massive Unfallvorgänge oder schwerwiegende Vorerkrankungen, wie z. B. „Knochenschwund“ (Osteoporose), können Wirbelkörper nicht „ausrenken“ und müssen demnach auch nicht „eingerenkt“ werden (Alt et al. 2020).

      Mythos 4

      Wenn der Rücken beim Einrenken „knackt“, sind die Wirbel eingerenkt!

      Falsch! Die Wirbel sind nicht ausgerenkt und müssen daher nicht eingerenkt werden. Wenn es „knackt“, liegt das am Entweichen eines Unterdrucks. Zwischen den inneren Körperteilen (Muskeln, Bindegewebe, Fett usw.) befindet sich Flüssigkeit, welche eine klebende Wirkung aufeinander auslöst. Durch einen schnell und stark ausgeführten Druck auf die betreffende Struktur, z. B. den Muskelbereich neben der Wirbelsäule, entweicht der Unterdruck, dies resultiert in einem „knackenden“ Geräusch (Unsworth et al. 1971). Denselben Effekt kannst du leicht mit zwei flachen Gegenständen wie Spiegeln, die du mit einem Tropfen Wasser dazwischen aufeinanderlegst und anschließend plötzlich auseinanderreißt, veranschaulichen.

      Mythos 5

      Eine geringe „Ungleichheit“ der Wirbelsäule ist eine Ursache für Rückenschmerzen!

      Falsch! Die Wirbelsäule ist nie perfekt geformt, weil sie individuell konzipiert ist. Ähnlich verhält es sich mit der Farbe der Haare, der bevorzugten Hand (Links- oder Rechtshänder) oder der Gesichtsform (Balagué & Pellisé 2016).

      Mythos 6

      Ein runder Rücken ist beim Heben von Gegenständen gefährlich!

      Falsch! Der Anpressdruck auf die einzelnen Wirbelkörper beim Heben mit rundem Rücken verändert sich kaum im Vergleich zum Druck beim Heben mit gestrecktem Rücken (Saraceni et al. 2020).

      Mythos 7

      Bandscheiben rutschen aus der Wirbelsäule!

      Falsch! Bandscheiben können nicht aus der Wirbelsäule gleiten wie ein Stück Seife aus der Hand. Das Problem eines sogenannten Bandscheibenvorfalls besteht in dem Austreten von innerem Bandscheibenmaterial. Dieses drückt dann auf die Nervenwurzel und verursacht so den Schmerz oder die Irritation des Nerven (Kribbeln, Brennen, Taubheit) (Ikemoto et al. 2019).

      Mythos 8

      Der menschliche Körper ist vergleichbar mit einer Maschine!

      Falsch! Der Mensch ist ein fühlendes, träumendes, individuell denkendes, empathisches Lebewesen und sein Körper ist nicht mit der Funktionsweise einer Maschine abzubilden. Genauso wichtig ist daher die Beachtung der Psyche bei der Behandlung körperlicher Beschwerden (Statista 2017, Alt et al. 2020).

      Außerdem reagieren Menschen auf moderate Stressreize nicht mit Zerbrechen oder Schaden, wie es z. B. bei einem Auto der Fall wäre. Stattdessen kann sich unser Körper anpassen und leistungsfähiger werden. Diese Anpassung ist das Grundprinzip von jedem körperlichen Training und ermöglicht uns, mit den Belastungen zu wachsen und sie in Zukunft besser zu bewältigen (Kitaoka 2014).

      Mythos 9

      Übergewicht ist die „Hauptursache“ für Rückenbeschwerden!

      Falsch! Natürlich ist ein gesunder Lebensstil immer anzustreben, aber auch dünne Menschen leiden an Rückenbeschwerden. Die Optimierung des Körpergewichts und die Vermeidung von Giftstoffen sind zur Bekämpfung von Rückenbeschwerden nicht wichtiger als andere Methoden (Aktivität, Entspannung, Belastungseinteilung, Angstvermeidung usw.) (Chou et al. 2016).

      Mythos 10

      Mythen im Zusammenhang mit Rückenbeschwerden und der entsprechenden Therapie sind kaum vorhanden!

      Falsch! Es existieren viele Mythen bezüglich der Therapie von Rückenbeschwerden, weil diese einfacher vorstellbar sind, Fachleute viel Zeit benötigen, bis die Wissenschaft sie erreicht und weil eine große Industrie viel Geld daran verdient. Solange du als „krank“ oder „verletzt“ giltst, verdient jemand an dir (Brownlee et al. 2017).

      Sind die meisten Rückenbeschwerden gefährlich? Nein. Die allermeisten Rückenbeschwerden sind nicht auf körperliche Schäden, sondern auf das erwähnte Muster unseres heutigen