Tobias Renk

Der Scrum-Reiseführer


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neuen Begriffsbildung geführt. Der Ausdruck VUCA beschreibt diese neue Welt. VUCA ist dabei ein Akronym für die englischen Begriffe Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Die Vorhersehbarkeit bestimmter Ereignisse ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich geworden. Wer konnte schon vorhersehen, dass eine Revolte eines Händlers, wie es sie viele gibt, zu einer der größten Revolutionsbewegungen, dem Arabischen Frühling, wird – weil sie von einer zufällig anwesenden Person mit einem Smartphone gefilmt und online gestellt wurde. Das gleiche Prinzip gilt auch auf Unternehmensebene. Die Vorhersagbarkeit nimmt ab und führt zu Verunsicherungen. Gleichzeitig nimmt die Komplexität im Unternehmensumfeld zu und unterschiedliche Perspektiven vermischen sich. Trennungen, die früher eindeutig waren und aufgrund derer es zumindest mit großem Aufwand möglich war, einigermaßen gesicherte Annahmen zu treffen, gibt es heute nicht mehr. Immer häufiger gibt es unübersehbare Geflechte aus Reaktionen und Gegenreaktionen. Vielzitierte Best Practice-Erfahrungen sind nutzlos geworden, da sich gesuchte Antworten nicht mehr von bereits gestellten, ähnlichen Fragestellungen ableiten lassen. In anderen Worten: Wo genau die Reise hinführt, ist nach der Abfahrt eigentlich noch gar nicht klar.

      Wie lautet nun die Gegenantwort auf VUCA? Wie können Unternehmen mit dieser neuen Situation umgehen? Was können sie tun? Auf der Internetseite vuca-welt.de wird eine Antwort geliefert, die sich ihrerseits selbst mit dem Akronym VUCA abbilden lässt. Nur stehen die Buchstaben diesmal für Vision, Understanding (Verstehen), Clarity (Klarheit) und Adaptability (Anpassungsfähigkeit) oder Agility (Agilität). Wer ein konkretes Ziel vor Augen hat, kann Sinn stiften, Mitarbeiter für sich gewinnen und diese auf ein gemeinsames Ziel einschwören. Nachvollziehbare Zusammenhänge, Klarheit durch Offenheit und Transparenz sorgen dafür, dass sich Mitarbeitende auf das, was wirklich zählt, fokussieren können. Und da die Zukunft trotz aller Bemühungen nicht exakt vorhersagbar ist, müssen Unternehmen – und damit auch die Mitarbeitenden – in der Lage sein, sich schnell auf Veränderung einzustellen und neue Erkenntnisse, die während der Reise erlangt werden, in den noch verbleibenden Weg einzuarbeiten. Damit wird Agilität zu einer echten Kernkompetenz moderner Unternehmen. Mehr noch, Agilität wird zu einem wichtigen Wettbewerbsvorteil.

      Mit dieser Anpassungsfähigkeit bzw. Agilität befasst sich dieser Reiseführer. Die Autoren haben sich dabei für das Scrum-Rahmenwerk entschieden. Dieses beschreibt eine Methode, wie Agilität in Unternehmen eingeführt werden kann. Die Auswahl von Scrum fiel den Autoren dabei leicht. Scrum, oder adaptierte Versionen davon, die im Verlauf dieses Buches behandelt werden, ist in der Praxis die beliebteste und am häufigsten verwendete agile Methode. Diese Methode soll Unternehmen in die Lage versetzen, produktiv und kreativ Produkte mit höchstmöglichem Wert zu entwickeln und sich zügig an sich ändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Der Begriff Scrum hat seinen Ursprung im Rugby und leitet sich aus dem englischen Begriff für Gedränge ab. Hiermit soll verdeutlicht werden, dass die Entwicklungsteams, die sich dem Scrum-Modell bedienen, insbesondere durch kooperatives, selbstverantwortliches und selbstorganisiertes Verhalten erfolgreich sind. Die beiden Scrum-Erfinder Ken Schwaber und Jeff Sutherland beschrieben ihr Rahmenwerk erstmals im Scrum Guide im Jahr 2010. Die Ausführungen in diesem Buch basieren auf dem Scrum Guide, der im November 2020 veröffentlicht wurde. Diese siebte Auflage trägt den Titel „The Scrum Guide. The Definite Guide to Scrum: The Rules of the Game“, was als Indiz interpretiert werden kann, dass in näherer Zukunft keine Aktualisierungen geplant sind.

      Lassen Sie sich nun verzaubern, was in der Theorie alles möglich ist und wie es in der agilen Wirklichkeit zugeht. Freuen Sie sich auf ein beeindruckendes agiles Team auf dem Weg zum Erfolg und bestaunen Sie die Scrum Artefakte in ihrem ganzen Glanz der praktischen Nutzbarkeit. Erleben Sie, wie jedes einfache Scrum Meeting zu einem Event des Austausches und der Erkenntnis wird. Erkunden Sie in einer einmaligen Tour die tiefen Höhlen der Reports und bereiten Sie sich auf größere Dinge vor, die vor Ihnen liegen könnten, auf der Reise in die weite Welt der Agilität.

      3 Scrum Framework – Eine kurze Einführung

      In diesem Kapitel werden in einem Schnelldurchlauf die Werte und Prinzipien sowie die Rollen, Artefakte und Events des Frameworks vorgestellt, auf denen Scrum basiert. Es dient dazu, sich schnell einen Überblick zu verschaffen, bevor die angerissenen Themen in den nachfolgenden Kapiteln tiefergehend und insbesondere in Hinblick auf die praktische Anwendbarkeit behandelt werden.

      3.1 Das Fundament

      Scrum basiert auf der empirischen ProzesssteuerungEmpirische Prozesssteuerung. Ziel dieser Empirie ist es, Wissen aus gewonnen Erfahrungen abzuleiten und so bessere Entscheidungen zu treffen. Damit man in kurzen Zeitabständen die Möglichkeit zur Prüfung und Anpassung hat, verfolgt Scrum einen iterativen, inkrementellen Ansatz für die Produktentwicklung. So wird nicht nur erreicht, dass die Erfahrungswerte schneller in klügere Entscheidungen münden. Mit dieser Vorgehensweise können auch mögliche Risiken frühzeitig identifiziert und angegangen werden. Die empirische Prozessteuerung spiegelt sich in drei Säulen, auf denen Scrum basiert, wider: Transparenz, Überprüfung und Anpassung.

      Abbildung 1:

      Säulen und Werte von Scrum

      Scrum wurde ursprünglich für das Softwareumfeld entwickelt. Mittlerweile bewegt sich dieses Vorgehensmodell jedoch nicht mehr nur in seinem originären Bereich, sondern kann allgemein im Bereich Produktentwicklung eingesetzt werden. Dem Entwicklungsprozess von Software wird unterstellt, so umfassend zu sein, dass eine detaillierte Planung der einzelnen Schritte vorab nicht möglich ist. Somit sind regelmäßige Prüfungen und Transparenz zentrale Elemente. Sämtliche Prozessschritte sind dann für alle Beteiligten ersichtlich. Das sind Grundvoraussetzungen, um zum einen unerwünschte Veränderung umgehend festzustellen und zum anderen schnell korrigierend eingreifen zu können. Das erscheint zunächst nicht sehr neu. Was allerdings bei Scrum und anderen Methoden, wie beispielsweise dem Lean Start-up, mehr in den Vordergrund rückt, ist die Dauer bis zu einer Prüfung. Diese ist deutlich kürzer als bei traditionellen Projektmethoden, wie zum Beispiel beim Wasserfall. Auf diesen Aspekt wird in diesem Buch noch näher eingegangen, sobald wir uns dem Thema Sprint widmen.

      Neben den drei Säulen besteht der Scrum Guide seit 2016 aus fünf Werten, die das Rahmenwerk unterstützen und komplettieren: Selbstverpflichtung, Mut, Fokus, Offenheit und Respekt (siehe Abbildung 1). Die Personen im Entwicklungsteam verpflichten sich gemeinsam, die Ziele zu erreichen und schaffen dadurch eine kollektive Selbstverpflichtung. Durch Mut sollen komplexe Aufgabenstellungen mithilfe kreativer Lösungen realisiert werden. Der Fokus des Entwicklungsteams liegt ausschließlich auf dem Erreichen des gemeinsamen Ziels. Dabei sollen sich die Tätigkeiten auf die wesentlichen Aktivitäten konzentrieren, um Kapazitäten nicht zu verschwenden. Durch Offenheit soll Herausforderungen und Erfolge verdeutlichen. Diese fünf Werte sollen zu kontinuierlichen Verbesserungen beitragen. Agile Entwicklung nach Scrum setzt einen verständnisvollen Umgang innerhalb des Entwicklungsteams voraus. Dieser umfasst gegenseitigen Respekt, Wertschätzung und die Berücksichtigung von individuellen Befindlichkeiten.

      3.2 Scrum Rollen

      Ein Scrum Team hat immer einen Product Owner, einen Scrum Master und mehrere Entwickler. Die Verantwortung für das zu entwickelnde Produkt liegt beim Product Owner. Er ist daher insbesondere verantwortlich für die Wertmaximierung und die Qualität des Produkts. Das Entwicklungsteam arbeitet selbstorganisiert und in iterativen Schleifen am Projektprodukt. Ein Entwicklungsteam sollte mindestens drei und nicht mehr als neun Mitglieder haben, da der Kommunikationsaufwand mit jedem zusätzlichen Teammitglied erheblich zunimmt. In Abbildung 2 sieht man, dass bei einem Team mit sieben Mitgliedern 21 mögliche Beziehungen bestehen. Erweitert man das Team um nur zwei weitere Mitglieder ergeben sich bereits 36 Beziehungen. Bis zu 105 stolze Kommunikationsvariationen erreicht ein Team mit 15 Mitgliedern. Auf den Aspekt der Teamgröße wird in einem späteren Kapitel nochmals eingegangen, wenn die Zwei-Pizzen-Regel von Amazon vorgestellt wird.

      Abbildung 2:

      Beziehungen innerhalb eines Teams