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Handbuch Gender und Religion


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      Erstens heben alle Artikel die Komplexität der jeweiligen konzeptuellen Zugänge hervor. Konzepte lassen sich nur in einem zeit- und kulturgeschichtlich kontextualisierten Setting verstehen. Sie sind geprägt von spezifischen Forschungsvorstellungen und Untersuchungserwartungen, aber ebenso von öffentlichen Debatten und emisch-religiösen Weltbildern. Konzepte sind reflektiertes Nachdenken über die Fragen einer gewissen Zeit und Kultur. Auch unsere gegenwärtigen öffentlichmedialen und wissenschaftlichen Diskurse über Geschlecht und Religion entziehen sich dieser Kontextualität nicht. Sie sind von unseren heutigen normativen Vorstellungen und kollektiven Erwartungen geprägt. Dies zeigen beispielsweise die Beiträge zum Konzept des Feminismus, der Maskulinität oder der Familie auf.

      Zweitens verdichten Konzepte Fragen an empirisch beobachtbares Material und machen damit Problemstellungen vergleichbar. Sie haben also einen komparatistischen Grundcharakter und bilden Leitlinien für einen vergleichenden Blick. Dieser kann, wie die Beiträge zeigen, diachron im Sinne einer historisch vergleichenden Perspektive oder synchron als transreligiöse Untersuchung gestaltet sein. Die Herausforderung dabei ist jedoch, auch im Vergleich die Kontextualität der Konzepte nicht zu vergessen. Dies macht der Beitrag zum Ökofeminismus deutlich: Obwohl drängende globale Fragen in verschiedenen Teilen der Welt gestellt werden, sind die konkreten Reflexionen darüber von lokalen Begebenheiten und spezifischen Vorstellungen, auch bezüglich Gender und Religion, geprägt.

      Für die genderzentrierte Religionsforschung ist damit eine zweifache Herausforderung verbunden. Auf der einen Seite sollen Grundkonzepte präzise genug bestimmt werden, damit ihre verdichtende Funktion zu einer profilierten Forschungsfrage führen kann. Auf der anderen Seite sollen sie jedoch genügend offen sein, um den empirisch beobachteten Phänomenen gerecht werden zu können. Dabei verhindert eine sorgfältige Reflexion, dass dies zu einer Reise zwischen Skylla und Charybdis wird: Konzepte im Verständnis dieses Handbuchs sind also Denkanstöße, die hoffentlich Neues entdecken lassen.

       Literatur

      Bal, Mieke (2002), Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto: University of Toronto Press.

      Bhabha, Homi (1994), The Location of Culture, London: Routledge.

      Dolores Zoé Bertschinger

       Auf dem »religiösen Auge« blind?

       1 Einleitung

      Feminismus ist eine soziale, politische und kulturelle Bewegung, die auf eine umfassende Veränderung patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen abzielt. Die Frauenbewegung in Nordamerika und Europa konsolidierte im ausgehenden 19. Jahrhundert feministische Forderungen wie das Wahlrecht für Frauen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder Friedenspolitik. Die Auseinandersetzung mit religiösen Anschauungen spielte für viele Frauen dabei eine wichtige Rolle und noch weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein stand die Beschäftigung mit dem Göttlichen auf der Tagesordnung zahlreicher feministischer Seminarprogramme. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen in jüngeren feministischen Ansätzen kaum eine Rolle spielt. Deshalb wird in diesem Artikel die feministische Theoriebildung einer religionswissenschaftlichen Kritik unterzogen und aufgezeigt, inwiefern die Berücksichtigung von Religion für den Feminismus heute weiterführend sein könnte.

      In einem ersten Abschnitt wird die Periodisierung der Geschichte des Feminismus in »Drei Wellen« aufgegriffen und als säkulares Narrativ problematisiert. Ein zweiter Abschnitt behandelt die Vernachlässigung theologischer Reflexionen und religiöser Erfahrungen in der feministischen Theorie. Im dritten Abschnitt schließlich wird anhand der Autobiografie der evangelischen feministischen Theologin Marga Bührig (1915–2002) deutlich, wie sich religiöse und säkulare Frauenbewegung im 20. Jahrhundert gegenseitig bereichert haben. Die feministische Forschung kann die Frauenbewegung nur sinnvoll begleiten und reflektieren, wenn sie diese Verschränkung berücksichtigt und systematisiert.

       2 Feminismus zwischen den Wellen

      Feminismus1 bezeichnet die Frauenbewegung als kulturelle und politische Kraft zur Veränderung von Gesellschaften, Beziehungen und individuellen Lebensentwürfen sowie die intellektuelle Tradition, diese Veränderungen voranzutreiben und zu reflektieren.2 Feminismus wirkt also auf der persönlichen Ebene in der alltäglichen Lebensgestaltung, auf der kollektiven Ebene als soziale und politische transformative Kraft sowie auf der Ebene der Wissensproduktion als Impuls für theoretische Ansätze und Bildungsinhalte.3 Systematisch wird eine Vielzahl von Feminismen unterschieden: liberaler, radikaler, sozialistischer, marxistischer oder anarchistischer Feminismus, Pop-Feminismus, Gleichstellungs- oder Differenzfeminismus, Ökofeminismus, intersektionaler und postkolonialer Feminismus, Womanism, Mujerista, Queer-Feminismus, psychoanalytischer oder poststrukturalistischer Feminismus und vieles mehr.4 Diese verschiedenen Positionen haben ihre je eigene historische Tradition und schließen einander nicht (immer) aus. Feminismus ist deshalb am besten als ein Kaleidoskop zu begreifen, das sich mit jedem Blick verschiebt und doch immer wieder dieselben oder verwandte Formen aufleuchten lässt. Es ist wichtig, die enorme Vielfalt der Kristalle im feministischen Kaleidoskop im Hinterkopf zu behalten, wenn dazu übergegangen wird, den Feminismus historisch darzustellen.

      Die geschichtliche Entwicklung des Feminismus wird meistens in drei Kapiteln, sogenannten Drei Wellen, erzählt: die Alte Frauenbewegung oder Erste Welle im Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert, die Neue Frauenbewegung oder Zweite Welle von 1960 bis 1980 sowie die Dritte Welle ab den 1990er Jahren.5 Diese Erzählung von den Drei Wellen ist problematisch.6 So schrieb die feministische Theologin Marga Bührig in ihrer Autobiografie Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein (1987):

      Es fiel mir auf, daß die Zeit zwischen dem Ende der »alten« Frauenbewegung und dem Beginn der »neuen« Frauenbewegung als eine Art Leerraum dargestellt oder eben nicht dargestellt wird. Es liest sich so, als hätten in dieser Zeit keine Frauen gelebt, als hätte es zum Beispiel keine Frauenorganisationen gegeben, die mit den Ansätzen der alten Frauenbewegung weitergearbeitet hätten. Natürlich war in Deutschland das Dritte Reich und überall der Zweite Weltkrieg ein tiefer Einschnitt. Aber die Jahre zwischen dem Ende des Krieges und dem Anrollen der neuen Frauenbewegung (gegen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre) fehlen fast überall. Genau in diesen Jahren beschäftigen sich viele Frauen mit Problemen der Emanzipation, und es gab auch christlich geprägte Frauenorganisationen und Frauenwerke, die nirgends in der Frauengeschichte erwähnt werden.7

      Mit der Darstellung ihres Lebensweges wollte Marga Bührig zeigen, dass auch zwischen der Ersten und der Zweiten Frauenbewegung Frauen um Selbstbestimmung, öffentliche Anerkennung und ein differenziertes Frauenbild rangen. Das heißt: Auch in Zeiten vermeintlicher Wellentäler wurde und wird feministisches Wissen tradiert und adaptiert. Dawn Llewellyn bringt dies auf den Punkt: »A strong adherence to the wave metaphor overlooks the cross-generational conversations that have taken place in feminism’s changing historical contexts.«8

      Das Narrativ der Drei Wellen kann weiter in Bezug auf die Wellenberge kritisiert werden. Sie suggerieren, es habe jeweils ein dominantes feministisches Thema gegeben, zum Beispiel den Kampf fürs Frauenstimmrecht in der Ersten, für sexuelle Befreiung in der Zweiten und für die Anerkennung fluider Geschlechtsidentitäten in der Dritten Welle. Es erscheint dann so, als ob sich der Feminismus von Errungenschaft zu Errungenschaft weiterentwickelt und ein Thema nach dem anderen »abgehakt« hätte.9 Dabei geht vergessen, dass er stets von einer Vielzahl individueller und lokaler Initiativen geprägt wurde und wird, die nicht diesen hegemonialen Themensetzungen entsprechen.10 Es ist deshalb adäquater, die Gleichzeitigkeit der verschiedenen feministischen Ansätze und Themen zu betonen. Dies gilt umso mehr, wenn die feministische Perspektive über Europa und Nordamerika hinaus um postkoloniale und intersektionale Aspekte erweitert wird.11