Hannelore Cayre

Reichtum verpflichtet


Скачать книгу

des Ganzen war sie ledig – Ich will eine freie Frau bleiben und nicht als arme Pute unter der Vormundschaft eines Trottels völlig mittellos dastehen –, also ohne einen Ehemann, mit dem Casimir sich vernünftig hätte besprechen können, um sie zu zügeln. Und mit über sechsundfünfzig Jahren war es natürlich zu spät. Ungeachtet dieser Mängel und der Tatsache, dass sie auf die Frauen der Familie einen bedauerlichen Einfluss ausübte, blieb sie doch ein akzeptabler Umgang, was für Auguste, der nicht nur sein Heim in ein Schlachtfeld verwandelt, sondern sich zuletzt unverblümt gegen seine Kaste aufgelehnt hatte, leider längst nicht mehr galt.

      Von Natur aus Optimist, hatte Casimir auf die Modernität seiner Schwester gesetzt, um seinen jungen Sohn zu gemäßigteren Positionen zu führen. Und schließlich würden sie aufeinander aufpassen, was in keinem Fall schaden konnte.

      Als Auguste mit niedergeschlagener Miene das Speisezimmer betrat, war das Mahl bereits aufgetragen, und die drei Männer der Familie, sein Vater, sein Schwager Jules sowie sein älterer Bruder Ferdinand, warteten mit dem Essen auf ihn.

      »Nun?«, fragte Casimir bang.

      »So, wie er dreinschaut, hat er das große Los gezogen!«, spottete Ferdinand.

      »Du wirst zufrieden sein, ich habe eine 4 gezogen«, antwortete Auguste kaum hörbar, ehe er sich auf seinen Stuhl fallen ließ.

      Sein Vater beruhigte ihn. »Mach dir nur keine Sorgen, wie damals bei deinem Bruder habe ich vorgesorgt und die vom Staat verlangten 2000 Franc zurückgelegt, um dich loszukaufen. Aber da wir wegen dieses verfluchten Gesetzes jetzt selbst zusehen müssen, wie wir dir einen Einstandsmann beschaffen, habe ich genug, um einen Menschenhändler zu bezahlen, damit er uns einen guten beibringt. Ich bin bereits an die Gesellschaft Kahn & Lévy auf der Place Sainte-Opportune herangetreten, die sie in Hülle und Fülle anbieten soll.«

      »Haben Sie Ihre israelitischen Menschenfleischhändler in dem Käseblatt gefunden, das Ihr Freund Tripier herausgibt?«, versetzte Schwager Jules.

      »Zwischen Reklamen für den Naudia-Zollstock und die vereinfachte Methode zum Deutschlernen!«, setzte Ferdinand noch eins drauf.

      »L’Assurance ist kein Käseblatt, sondern eine Zeitung für Familienväter. Die Musterungskommission tagt am 18. Juli, das lässt uns allen, ich betone, uns allen, sechs kurze Monate, um einen Einstandsmann für unseren lieben Auguste zu finden.«

      Casimir persönlich hatte die Zeit vor der Auslosung seines eigenen Jahrgangs in sehr schlechter Erinnerung. Ein Streit mit seiner Mutter, die sich zur Strafe strikt weigerte, ihm einen Einsteher zu bezahlen, falls er eine schlechte Nummer zog, hatte ihn bis zum letzten Augenblick im Ungewissen gehalten. Beklommen erinnerte er sich noch an den Tag, an dem er mit dreiundzwanzig Jahren im Saal desselben Rathauses mit zitternder Hand in die Urne gegriffen hatte. Zum Glück war das Schicksal ihm hold gewesen und er zog eine gute Nummer. Er rückte folglich nicht ein. Die Ereignisse von 1848 verstärkten seine Erleichterung noch. »Ich habe den Wind der Kanonenkugel in meinen Haaren gespürt«, pflegte er zu sagen. Es kam daher nicht infrage, seine Söhne dieser üblen Erfahrung auszusetzen, schon gar nicht Auguste, der angesichts seiner schwachen Konstitution noch weniger als jeder andere das Kasernendasein überleben würde.

      »Mit den Preußen, die auf uns zurasen wie eine Lokomotive, scheint mir, dass die Preise steigen und Ihre kläglichen 2000 Franc nutzlos sein werden, um die gewünschten Schlepper anzulocken. Glauben Sie mir, das ist keine sichere Sache«, stellte Schwager Jules klar, der sich in Sachen Konskription auskannte, hatte er doch ein Drittel seiner Existenz damit vergeudet, in der trüben Routine der Garnison herumzudümpeln.

      »Eins steht fest, dank der Kriegsgerüchte werden diese Rosstäuscher mit dem Kauf und Verkauf von Menschen mehr Geld verdienen als beim Viehhandel«, stimmte Ferdinand mit vollem Mund zu.

      Obwohl aller Augen auf ihn gerichtet waren, starrte Auguste in seinen Teller, als wäre es ein Abgrund. Sein Vater legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm und sagte sanft: »Denkst du, wir wüssten nicht, was dich bekümmert? Die militärische Stellvertretung ist insofern eine gute Sache, als sie dazu beiträgt, just die soziale Gerechtigkeit herzustellen, die dir am Herzen liegt. Sie sorgt dafür, dass das Geld aus den Händen derer, die welches besitzen, in die leeren Hände derjenigen fällt, die keines haben, um unterm Strich der Armee einen guten Soldaten anstelle eines schlechten zuzuführen. Hör nicht auf die Dummheiten, die die Sozialisten, mit denen du verkehrst, dir in den Kopf gesetzt haben mögen. Indem der Wehrdienst sie der schmutzigen Luft ihrer Fabrikhalle und der schlechten Ernährung entzieht, hält er für die Proletarier nur Wohltaten bereit, während er die Gesundheit der Bürgersöhne gefährdet und ihre Karriere zerstört. Dieser Gerechtigkeitsbruch, von dem du ständig redest, liegt gerade in dieser absurden Idee einer Wehrpflicht für alle begründet.«

      »Es gibt eine sehr viel einfachere Art, das meinem lieben Bruder zu erklären«, mischte Ferdinand sich ein. »Der Proletarier, der eine richtige Arbeit hat, wird niemals Einstandsmann werden. Die Frage betrifft also nur den Arbeiter ohne Arbeit, der per definitionem ein gefährliches Subjekt ist. Man muss gar nicht tiefer schürfen: Uns vor dem Chaos zu retten, sperrt man diesen Überschuss an Abschaum in die Garnisonen! Nicht wahr … Auguste …«

      Und angesichts der Bedrückung des Letzten schloss Casimir ganz leise, als würde er zu einem Kranken sprechen: »Sag dir einfach, dass es Zeit ist, die wir dir kaufen, und kein Mensch …«

      »Zeit, um deine großen linken Theorien auszufeilen, von der die Gesellschaft eines Tages gewiss profitieren wird«, spottete Ferdinand erbarmungslos und löste bei Schwager Jules einen mit Gewalt unterdrückten Lachkrampf aus, bei dem er beinah seine Suppe aufs Tischtuch gespuckt hätte.

      »In der Kaserne würde man Auguste seine Bildung neiden und ihn für seine Qualitäten verachten!«, ereiferte sich sein Vater.

      »Seine Qualitäten? Welche Qualitäten denn?«, sagte sein Bruder und blickte in die Runde, als wollte er Vorschläge sammeln.

      Da durchfuhr es Casimir jäh wie ein Blitz. »Aber natürlich!«, rief er aus. »Wieso habe ich nicht früher daran gedacht! Warum nicht den kleinen Perret fragen, ob er dein Einstandsmann wird? Womöglich hat man ihm eine günstige Nummer zugeteilt. Wenn man bedenkt, dass wir im Begriff waren, irgendwelche Leute in die entlegensten Winkel des Landes zu schicken, wo die Lösung vielleicht hier liegt, hier bei uns! Adèle! … Adèle!«

      Während er schrie, schlug er mit seinem Stock auf den Boden, um das Dienstmädchen herbeizurufen. »Adèle! Adèle, in Herrgotts Namen!«

      »Ja, Monsieur …«

      »Adèle, wo ist der Gärtner?«

      Bis dahin still, hieb Auguste plötzlich mit der Faust auf den Tisch, dass die ganze Gesellschaft zusammenzuckte. »Es reicht, das ist widerlich! Perret junior soll nicht an meiner Stelle einrücken! Niemals werde ich das akzeptieren! Seine arme Familie soll nicht den Blutzoll zahlen, während wir die Mittel haben, uns für den Jahrespreis einer Opernloge loszukaufen.«

      »Aaaaah, jetzt ist es so weit!«, knurrte sein Bruder. Und die beiden anderen zu Zeugen nehmend: »Endlich ist der Moment gekommen, da er uns vom Elend der Menschheit sprechen wird!«

      Und Ferdinand nahm die Kelle und füllte Augustes Teller randvoll, bis er überschwappte.

      »Da, nimm doch noch ein wenig von dieser exzellenten Suppe, damit du uns bequem von all diesen armen Leuten erzählen kannst, denn was gibt es Besseres als eine gute Tafel mit Blumenschmuck und Silberbesteck, um sozialistische Gefühle in uns zu wecken. Na los, wir lauschen dir! Erzähl uns zum Beispiel … von deinen Freunden vom Café de Madrid … Oder, äh, wie heißt noch dieser schändliche Jude, der offenbar eine Abhandlung über das Recht auf Diebstahl verbrochen hat? Marx, richtig? Bitte sehr, erzähl uns ein wenig von deinem Monsieur Marx!«

      Außer sich verließ Auguste unverzüglich den Tisch, die Fäuste geballt, den Mund gebläht von all den abscheulichen Worten, die er seinem Bruder am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte, aber er zügelte sich aus Rücksicht auf seinen Vater, den er für heute ausreichend niedergeschmettert erachtete. Er hörte Ferdinand noch brüllen, während er in