Rolf Schneider

Janowitz


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Kennengelernt hatte er die Baronesse in Meudon-Val-Fleury, vor mehr als zehn Jahren, da war er Sekretär bei Auguste Rodin gewesen. Die Baronesse hatte zusammen mit ihrer Mutter das Atelier des Bildhauers besucht. Die Mutter war eine ältliche Person gewesen, mager, in sich gekehrt und, wie er bei den späteren Begegnungen erfuhr, einigermaßen bigott. Die Tochter, aufrecht in ihrer Haltung und mit anmutigem Lächeln, gefiel ihm augenblicklich. Er durfte sie herumführen, ehe Rodin, angeregt durch das Äußere der Baronesse, ihm das abnahm. Rodins Hunger auf Frauenschönheit war grenzenlos, was Rilke bewunderte und was ihn auch neidisch machte. Hier war ein Verlangen, das unermesslich war, ein Durst so groß, dass alle Wasser der Welt in ihm wie ein Tropfen vertrockneten. Er sah, wie Rodin zu den beiden Frauen sprach, die greise Hand an der Schulter der Baronesse, die das offensichtlich gerne ertrug. Rilke ging einige Schritte hinter ihnen her, im Blick immer die schöne Baronesse, die bewundernd aufschaute zu den riesigen Plastiken Rodins.

      Er hatte die Baronesse anderthalb Jahre später wiedergesehen. Ihr Bruder war Zuhörer einer seiner Lesungen in Prag gewesen und hatte ihn nach Janowitz eingeladen. Das hatte er gerne wahrgenommen, wie er Einladungen von Aristokraten auf deren Schlösser immer gerne wahrnahm. Er erkannte die schöne Baronesse augenblicklich wieder, die, als er Meudon und Rodin erwähnte, sich ihrerseits dankbar zu erinnern schien. Die bigotte Mutter war ständig um sie, dazu eine andere ältliche Person, Ausländerin, frühere Erzieherin der Baronesse, wie er erfuhr, und nun offenbar deren Vertraute. Die zwei sprachen englisch miteinander.

      Er fand vergleichsweise wenige Möglichkeiten, mit der Baronesse allein zu sein, was ihn verdross. Abends trug er aus seinen Gedichten vor, denen die Baronesse aufmerksam lauschte, so wie ihr älterer Bruder, und ganz im Gegensatz zu dem jüngeren, der sich bei den Lesungen gern entfernte. Rilke blieb damals bloß wenige Tage. Danach begann er, worauf er sich ohnehin besonders verstand, mit der Baronesse eine ausufernde Korrespondenz. Es ist nicht leicht für einen Brief, so zu kommen und mit dem Inhalt die Freude dieses Eintreffens noch zu übersteigen. Der Ihre hat es gekonnt.

      Ein paar Jahre später hatte er sich nochmals in Janowitz aufgehalten, für insgesamt drei Wochen. Es wurde eine angenehme, eine schöne, eine erfüllte Zeit. Jetzt hatte er die Baronesse auch allein erlebt, sie hatte ihm den Park ihres Schlosses gezeigt, eine weitläufige Anlage, deren Pflege und Erweiterung ihr ein Bedürfnis war. Er hatte ihr Empfehlungen für Lektüren gegeben, denen sie gerne nachkam. Sie hatten sich manchmal berührt, eher zufällig. Die Mutter der Baronesse war kurz zuvor gestorben, bloß die frühere Erzieherin lebte weiterhin in Schloss Janowitz, Mary Cooney, gebürtige Irin, die ihm, so schien es, mit heimlichem Misstrauen begegnete. Die Baronesse durfte er jetzt Sidie nennen.

      Der Zug hielt an. Der Zahnschmerz hatte sich verflüchtigt. Er las das Stationsschild Beneschau, er stand auf und verließ das Abteil. Auf dem Bahnsteig bewegte sich eine Familie mit Kindern, ein Mann mit hellgrauem Umhang und Hut auf dem Kopf kam auf ihn zu und fragte:

      Herr Rilke?

      Er nickte. Er deutete auf die offene Abteiltür. Der Mann stieg ein und kehrte mit einem schweren Koffer zurück. Bitte, sagte er kurzatmig und wies auf das Stationsgebäude.

      Dort wartete ein Landauer. Rilke stieg ein, der Kutscher verstaute den Koffer, erklomm den Bock und fasste die Zügel. Die Fahrt führte an bäuerlichen Häusern vorbei, wechselte auf einen Weg zwischen Feldern und danach auf eine Allee unter Apfelbäumen. Rilke erkannte die Silhouette des Schlosses, unter dessen Einfahrt mit dem bunten gotischen Zierat die Baronesse stand, in den Fingern eine brennende Zigarette, die sie jetzt fortwarf und zertrat. Neben ihr hockte ein Hund.

      Der Landauer hielt, Rilke stieg aus. Der Hund wollte ihn beschnüffeln, die Baronesse hielt ihn zurück. Liebste Freundin, sagte er und küsste eine Hand, die nach Tabak und Rosenöl roch. Die Mischung behagte ihm. Die Hand, sah er, war zierlich und schmal, mit sehr zarter Haut. Die Baronesse trug einen Reitdress. Sie sagte:

      Seien Sie willkommen, Rainer.

      Personal erschien, das ihn zu seinem Zimmer geleiten sollte. Das Schlossinnere war ausgestattet mit historisierenden Fresken und geschnitzten Figuren, ein wenig überladen, eben neureich. Das Zimmer erkannte er wieder. Hier hatte er schon bei seinen früheren Aufenthalten gewohnt. Rechts neben dem Fenster stand ein Schreibpult, er nickte, er lächelte, die Baronesse kannte seine Gewohnheiten und ging darauf ein. Sein Koffer wurde gebracht. Er wechselte die Kleidung, zum zweiten Mal an diesem Tag, am Abend würde er sie nochmals wechseln, wie gewöhnlich. Er verließ das Zimmer. Er befand sich im zweiten Stock des Schlosses. Auch die Baronesse, erinnerte er sich, hatte auf dieser Etage ihre Gemächer.

      Er ging dorthin. Die Tür stand halboffen. Unten im Hof war Sidonies Stimme, offenbar redete sie mit einem Domestiken. Er trat ein. Dieses Zimmer war erheblich größer als das seine. Er sah ihr Bett, einen Schrank, eine Kommode, er ging dorthin und öffnete einen der Schübe. Er sah Wäsche, sorgfältig zusammengelegt, weiße Wäsche, zarte Stoffe, mit Spitze und Rüschen. Vorsichtig nahm er eines der Stücke heraus, befühlte es, der Stoff war kühl und seidig. Er roch daran. Der Duft schmeckte nach Rosenöl, Moschus und Honig.

      Sie saßen zu dritt beim Frühstück (Croissants, Toast, Marillenkonfitüre, Butter, Rührei, geräucherte Forelle, Assam-Tee). Das vierte Gedeck am Tisch war unberührt, Rilke schlief wohl noch. Sidonies Bruder Karl, in der Familie Charlie gerufen, sagte zu seiner Schwester:

      Ich habe einen Brief vom Grafen erhalten.

      Welchen Grafen? Wir kennen so viele.

      Ich rede von Guicciardini. Er überlegt einen Besuch bei uns. Ich vermute, er will um deine Hand anhalten.

      Wieder einmal.

      Seine Worte sind überaus höflich. Soll ich sie dir vorlesen?

      Ich kenne seine Worte. Er benutzt sie auch mündlich. Zähle ich richtig, wäre dies sein vierter Versuch.

      Er verfolgt seine Ziele mit Ausdauer und Geduld. Spricht das gegen ihn?

      Seine Ausdauer ist in Wahrheit Verzweiflung, und seine Geduld ist Starrsinn. Er spekuliert auf meine Mitgift.

      Das ist in unseren Kreisen bei Eheschließung das Übliche.

      Sie sagte nichts darauf. Sie schob ihre Teetasse beiseite, entnahm ihrem Silberetui eine Zigarette und zündete sie an. Außer ihrem Bruder saß am Tisch Mary Cooney, ihre einstige Erzieherin und nunmehrige Vertraute, in der Familie May-May geheißen. Sidonie fragte sie, was sie von Charlies Mitteilung halte. May-May entgegnete, sie habe dazu keine Meinung. Die beiden redeten jetzt miteinander englisch.

      Sidonie drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Sie verließ das Speisezimmer. Sie verließ das Haus und ging zu den Stallungen, wo sie ihr Pferd sattelte, Yér, einen braunen Wallach. Sie führte ihn auf den Hof, bestieg ihn und ritt davon. Es war ein sonniger Morgen, an den Gräsern im Park, sah sie, hing Tau.

      Sie dachte an das Gespräch mit ihrem Bruder. Den Grafen Carlo Guicciardini hatte sie während einer ihrer Italienreisen kennengelernt, einen liebenswürdigen, etwas klein gewachsenen Menschen, die meisten Männer, die sich um ihre Gunst bemühten, waren kleinwüchsig. Gab es dafür einen Grund? Sie wusste keinen. Guicciardini entstammte einer alten Florentiner Familie, mit einem hochberühmten Vertreter im Zeitalter der Renaissance, Francesco, enger Freund des Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli. Auch Francesco hatte, wie Machiavelli, in Diensten der Medici gestanden, auch er hatte, wie Machiavelli, ein berühmtes Buch geschrieben, »La storia d’Italia«, auf der Apenninhalbinsel jedem Schulkind geläufig, und eigentlich war dies ein erstaunlicher Buchtitel, da es damals einen Staat Italien noch längst nicht gegeben hatte, der war erst vor gerade fünfzig Jahren entstanden. Von Francesco existierte eine Porträtstatue, aufbewahrt in den Uffizien, Sidonie hatte sie sich dort anschauen dürfen, natürlich in Begleitung von Carlo.

      Sie galoppierte vorbei an einer gemähten Weide, auf der Landarbeiter beschäftigt waren. Als sie Sidonie erkannten, hielten sie in ihrer Tätigkeit inne, nahmen ihre Mützen vom Kopf und verbeugten sich etwas. Sidonie grüßte mit einer flüchtigen Geste der rechten Hand.

      Die Agrarflächen von Schloss Janowitz waren ausgedehnt. Den letzten Zuerwerb hatte Sidonies älterer Bruder Johannes betrieben, die Verwaltung erledigte jetzt ihr