Группа авторов

Frühstücksgeschichten aus Birk


Скачать книгу

wer weiter dachte, wusste, dass auch dieses letzte fast völlig von den Russen eingeschlossene Gebiet alsbald erobert werden würde.

      An diesem Tag, einem Sonntag, war Tante Lisa (43 J.) zu meiner Mutter (36 J.) gekommen. Sie hatte, weil ihr Mann (Onkel August) Reichsbahner war, erfahren, dass am nächsten Tag ein Zug nach Heiligenbeil, d. h. ans Frische Haff fahren würde. Meine Mutter sollte das Notwendigste packen und am nächsten Vormittag mit uns zum Bahnhof kommen. Tatsächlich war dies wohl eine der letzten Möglichkeiten, vor den Russen zu fliehen, und zwar über das zugefrorene Haff und weiter westwärts auf der Frischen Nehrung, um von dort irgendwie – im Treck, auf einem Schiff oder mit der Eisenbahn – in den Westen oder Norden zu gelangen. Ein festes Ziel vor Augen hatte man sicherlich nicht. Treibende Kraft für die Flucht Hals über Kopf war allein die Furcht vor den Russischen Soldaten, von deren Grausamkeiten man genug gehört hatte.

      Mein Mutter erzählte uns Kindern nichts von alledem. Wir – das waren Helmut (9 J.), Irmgard (7 J.), ich (6 J.) und Gitti (4 J.). Wie gewohnt gingen wir mit Ausnahme von Gitti ganz normal zur Schule, wurden aber bald unter dem Vorwand, „zuhause wäre etwas Schlimmes passiert“, aus dem Unterricht nach Hause geholt. Auch jetzt noch sollte unsere Flucht geheim gehalten werden.

      In der Nacht hatte meine Mutter das Notwendigste in einen großen Rucksack, für Helmut und Irmgard in kleinere Rucksäcke gepackt. Ich war – wie schon früher – für die Aktentasche mit den wichtigen Dokumenten verantwortlich. Die meiste Kleidung trugen wir am Körper, alles zwei- oder dreifach, besonders wegen der damals herrschenden Kälte. Alles lief in großer Ruhe ab – doch erinnere ich mich, dass ich wegen meines Wellensittichs „Hansi“ laut weinend protestierte, weil ich ihn nicht mitnehmen durfte. Und irgendwie bekam ich noch mit, dass irgendwer den Vogel gegen die Wand geschleudert hatte. Zu Fuß mit dem wenigen Gepäck auf unseren Rodelschlitten ging es dann noch am Vormittag zum zwei Kilometer entfernten Bahnhof, vorbei an den nutzlosen Panzersperren und dem vor Monaten zerbombten Haus.

      Nachts, nach ca. 45 km langer Eisenbahnstrecke, kamen wir in Heiligenbeil an, wo wir in der Nähe des Frischen Haffs bei einer hilfsbereiten Bauernfamilie unterkamen. Nach einigen Tagen ging es weiter über das Haff zur Frischen Nehrung. Auf meterdickem Eis war die Entfernung von 8 km Luftlinie mit Pferd und Wagen normaler Weise schnell und gefahrlos zu überwinden. Doch nun war es gefährlich: Durch Bombeneinschläge war das Eis an vielen Stellen brüchig und damit unpassierbar geworden. Auch stand wegen einer kurzzeitigen Tauwetterlage einige Zentimeter hoch Wasser auf dem Eis. Schließlich konnte man wegen der Gefahr von Fliegerangriffen nur bei Dunkelheit rüber. Soldaten der Wehrmacht leisteten Großartiges. Sie sorgten dafür, dass kleine Kinder auf die Pferdefuhrwerke gesetzt wurden und manches schwere oder überflüssige Hab und Gut abgeladen wurde. Vor brüchigen Eisstellen wiesen sie – in eiskaltem Wasser stehend – den Wagenlenkern den sicheren Weg. Wer sich nicht daran hielt, ging mit Pferd und Wagen unter und fand zusammen mit seinen Leuten im Haff ein eisiges Grab. Gitte und ich wurden also hinten auf ein Fuhrwerk gehoben. Noch heute habe ich vor Augen, wie meine Mutter mit Helmut und Irmgard und die anderen Verwandten im eiskalten Wasser dem Wagen folgten. Tatsächlich aber war dieser Wagen so überladen, dass eine Achse brach, glücklicher Weise jedoch erst, als er das feste Ufer der Nehrung erreicht hatte. Gitti und ich wurden nun auf einen anderen Wagen gesetzt, was beinahe schrecklich geendet hätte. Bei der noch herrschenden Dunkelheit hatte meine Mutter nämlich diesen Wagen aus den Augen verloren; über Stunden suchte sie laut rufend nach uns. Und sie hatte Glück. Meine Schwester Gitte rief zurück: „Mutti, hier sind wir. Gerhard schläft.“ Tatsächlich saß oder vielmehr lag ich halb über dem rückwärtigen Wagenbrett hängend in einer Lage, aus der ich jederzeit vom Wagen hätte fallen können. Später hieß es, mein Schutzengel hätte mich festgehalten.

      Auf der Nehrung gelangten wir zunächst nach Kahlberg, früher ein beliebtes Seebad, wo wir in den Vorjahren unsere Ferien verbracht hatten. Kahlberg kannte ich, der ich immer gern badete. Das war nicht die Drewenz zu Hause, in der ich beinahe ertrunken wäre, auch nicht die Wormditter Badeanstalt, das war vielmehr Kahlberg, mein Kindertraum: „Das große Wasser!“, wie ich es damals nannte. Dieses Wasser, die nach Nordwesten offene Ostsee, sollte nun, so hofften wir unsere Rettung sein. Ich sehe uns auf einer Düne sitzen und sehe ein großes Schiff weit weg vom Ufer vor Anker liegen. Kleine offene Boote fuhren mit vielen Flüchtlingen zu dem Schiff, wo diese einer nach dem anderen über eine außen hängenden Treppe an Deck kletterten. Ich meine, dass wir mehrere Tage dort auf Mitnahme hofften. Vergebens: Vielleicht auch nur deshalb, weil eine Tochter von Tante Lisa aus Angst vor dem Meer fürchterlich geschrieen hatte. Diese Angst war nicht unbegründet; denn zu jener Zeit erreichte längst nicht jedes Schiff das Ziel. So wurde zum Beispiel die Wilhelm Gustloff, die mit vielen Tausenden von Flüchtlingen am 28. Januar in Gotenhafen ablegt hatte, bald danach nicht weit vor Rügen von Torpedos eines russischen U-Boots getroffen und versenkt.

      Der Zug sollte durch Pommern, nördlich von Berlin durch Vorpommern, und Mecklenburg fahren und hatte als Ziel Hamburg-Altona. Es war nicht wie in Wormditt ein warmer bequemer Personenzug, sondern ein aus Viehwagen bestehender Güterzug. Auf dem Wagenboden war Stroh ausgebreitet und jeder Familie wurden einige Quadratmeter zugeteilt. Es war wohl eng, doch gefroren wurde nicht. Der Zug kam nur langsam voran. Meist fuhr er wegen möglicher Fliegerangriffe nachts und hielt auf freier Strecke – möglichst im Schutz von Wäldern oder auf kleineren Bahnhöfen. Die recht häufigen Halte waren nötig, weil es im Zug ja keine Toiletten gab und weil man auch Verpflegung beschaffen musste. Auf Bahnhöfen wurde schon mal warme Suppe ausgeteilt, sonst ging man in nahe Dörfer und besorgte Brot und Milch. Diese Ausflüge waren für mich schrecklich. Immer hatte ich Angst, meine Mutter würde nicht rechtzeitig zurückkommen und der Zug würde ohne sie weiterfahren. Später erzählte man mir, nur ich hätte soviel „Theater“ gemacht. Sonst gab es eigentlich nicht viel Aufregendes. Nur einmal: Der Zug stand in einem Bahnhof und in unserem Wagen herrschte eine richtig fröhliche Stimmung; denn schließlich waren wir ja den Russen entkommen. Meine Cousine Hedi spielte Mundharmonika: „Liebe kleine Schaffnerin, sag‘ wo fährt dein Wagen hin …“ Und plötzlich war da ein Heulen und Brummen und ein lautes Knattern von Maschinengewehren. Alle schrieen: „Tiefflieger!“ Und alle schmissen sich ins Stroh, ziemlich sinnlos, so Deckung zu finden und sich vor dem drohendem Kugelhagel aus den russischen Bordwaffen zu schützen. Doch recht schnell war der „Spuk“ vorüber. Es hieß: Die Flugzeuge seien wegen eines auf dem benachbarten Gleis stehenden Rote-Kreuz-Zuges abgedreht. Auch erfuhren wir, dass bei dem Fliegerangriff ein Heizer getötet worden sei.

      Irgendwann – Ende Februar – kamen wir in Hamburg-Altona an. Dort wurden wir in einem großen Hochbunker untergebracht, bis es nach einigen Tagen mit einem Zug nach Norden in das vom Krieg wenig betroffene Schleswig-Holstein weiter ging. So kamen wir nach Rendsburg, eine Kreisstadt genau in der Mitte des Landes am Nord-Ostsee-Kanal gelegen, wo es eine Oberschule für Jungen (Herderschule) gab, die ich später bis