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Frühstücksgeschichten aus Birk


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sondern die Russen nahmen sie mit, vergewaltigten sie und ließen sie dann wieder laufen. Mich hatten sie offensichtlich völlig vergessen. Meine Mutter war es, die als Erste den Ernst der Lage begriffen hatte und erklärte: „Junge, du bist hier nicht mehr sicher, du musst weg.“ Sie begann noch an demselben Tag, ein Bündel Fluchtgepäck für mich zu schnüren. Dann begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Als ich am nächsten Tag in der Nähe der Polizeistation herumstrolchte, hörte ich durch das offene Fenster die Polizisten wiederholt meinen Namen nennen. Ich ahnte, was das bedeutete und lief nach Hause. Dort erwartete mich schon meine Mutter, denn ein Pole habe ihr soeben höhnisch gesagt, „heute würde ihr Sohn eingefangen“. Es blieb für mich nur die Zeit, zwei Anzüge übereinander anzuziehen, mein Bündel zu schnappen und durch die Felder in Richtung Tschechoslowakei abzuhauen. Wenige Minuten später durchsuchten die Polen unser Haus und dessen Umgebung, natürlich ohne Erfolg. Da die Polizisten nicht wussten, wohin ich verschwunden war, stellten sie zunächst die Suche mit dem Bemerken ein, sie oder ihre Kollegen in den Nachbarorten würden mich schon finden.

      Für mich gab es nur ein Ziel, mich nach Langendorf, Kreis Sternberg in der Tschechoslowakei, durchzuschlagen. Dorthin hatte es meinen Onkel Anton, bis 1945 Arzt in Branitz bei Troppau, verschlagen. Da die Tschechen zu wenige eigene Ärzte hatten, hatten sie meinen Onkel zur Behandlung ihrer Leute in Langendorf festgesetzt. Er hatte im Erdgeschoss des örtlichen Schlosses seine Praxis und seine Wohnung. Da der örtliche Polizeikommandant im ersten Stock des Schlosses sein Büro und seine Wohnung hatte, war auf diskrete Weise für die Kontrolle des Deutschen gesorgt. Dieser Onkel war einer der in der Familie verabredeten Punkte, bei denen sich die Mitglieder der Sippe melden sollten, wenn sie den Krieg überlebt hatten.

      Für uns unter den Russen und Polen leidenden Deutschen galt die Tschechoslowakei damals – vor der Machtergreifung durch die Kommunisten – noch als Rechtsstaat und Hort der Menschlichkeit. Wir kannten nicht das Schicksal der Sudetendeutschen. Dementsprechend hatten mir meine Eltern als Ziel meiner Flucht blauäugig Langendorf, Kreis Sternberg, vorgegeben. Da ich die Umgebung meines Elternhauses bis zu einem Radius von 30 Kilometern von Treibjagden und Ausflügen her kannte, konnte ich Ortschaften und Straßen umgehen. Dabei stieß ich immer wieder auf Deutsche, die mir halfen und mich vor Kontrollpunkten warnten. Das war aber auch notwendig, da ich inzwischen aufgrund der scheinbaren Leichtigkeit meiner Flucht leichtsinnig wurde und, statt querfeldein zu gehen, die bequemeren breiten Straßen benutzte. Ich stellte oft fest, dass der Name meines Onkels der Schlüssel für die Hilfsbereitschaft der für mich unbekannten Menschen war. Er genoss hohes Ansehen, weil er hilfsbedürftige Kranke ohne Rücksicht auf ein Honorar behandelte.

      Nach einem mehrtägigen strammen Marsch erreichte ich an einem Nachmittag den Ort Langendorf, fand ohne Mühe das Schloss und setzte mich in den Warteraum, in dem sich noch zwei weitere Personen befanden. Geduldig wartete ich, bis ich an der Reihe war. Als mich die Sprechstundenhilfe schließlich fragte, was mir fehle, antwortete ich wahrheitsgemäß: „Nichts!“ Auf die weitere Frage, was ich dann hier wolle, antwortete ich ebenso wahrheitsgemäß: „Hierbleiben.“ Ich habe selten in meinem Leben ein so verdutztes Gesicht gesehen. Mit offenem Mund starrte die Sprechstundenhilfe mich an, bis sie mich erkannte und umarmte. Wir hatten uns mindestens seit dem Jahre 1943 nicht mehr gesehen und jetzt viel zu erzählen. Aber zuerst wurde ich in die Badewanne gesteckt, um mich nach dem Kampieren in Scheunen und dem Staub der Straßen und Feldwege wieder zu einem Menschen zu machen.

      Drei Tage nach meiner Ankunft sagte mein Onkel, er müsse mich „ehrlich“ machen und bei der Polizei als „Zugang“ anmelden. Etwa 14 Tage später erhielt ich eine Vorladung vor einen Ausschuss in der Kreisstadt Sternberg. Dem Gremium aus fünf Männern trug ich meine Geschichte vor, wobei deren Gesichter von Minute zu Minute skeptischer wurden. Mein Onkel übersetzte mir die Randbemerkungen des Ausschusses mit: „Räuberpistole, Lügenmärchen, alles erfunden, schmutziger Deutscher, der eine slawische Brudernation schlecht machen will.“ Mein Onkel blieb die Ruhe selbst. Er sagte, er wolle die Kompetenz des Gremiums keineswegs anzweifeln. Aber in diesen turbulenten Zeiten sei es durchaus möglich, dass nicht jede Nachricht sofort allen zugänglich sei. Er schlage daher vor, in den Ministerien in Prag nachzufragen, welche Erkenntnisse dort über die Zustände in Schlesien vorlägen. Mit Rücksicht auf die Person meines Onkels fand sich der Ausschuss schließlich bereit, entsprechende Nachforschungen anzustellen. Ich erhielt die Auflage, Langendorf nicht zu verlassen und mich jederzeit für Maßnahmen der Polizei bereitzuhalten.

      Etwa drei Wochen später erhielt ich die erneute Vorladung vor den Ausschuss in Sternberg. Ich erinnerte mich an die Gesichter der Ausschussmitglieder aus der vorherigen Sitzung und bekam abgrundtiefe Angst. Aufgrund eigenen Erlebens und der Erzählung der Sudetendeutschen hatte ich nicht mehr die geringste Hoffnung auf eine faire Behandlung meines Falles. Ich fürchtete festgenommen und an die Russen/Polen ausgeliefert zu werden. Mein Onkel hinderte mich daran, in einer Art Panikreaktion den Ort zu verlassen und unterzutauchen. Er sagte, er habe für mich gebürgt und ich hätte kaum eine Chance, mich zum Beispiel nach Bayern durchzuschlagen. Also fuhr ich mit ihm zum Ausschuss nach Sternberg. Dort kam alles ganz anders als von mir befürchtet. Der Ausschussvorsitzende begrüßte meinen Onkel und mich freundlich mit Handschlag und wollte wissen, wie es mir ginge. Auch die übrigen Mitglieder des Ausschusses waren wie umgewandelt. Sie erkundigten sich, ob ich mich von den Strapazen meiner „Reise“ gut erholt hätte und ob mir der Ort Langendorf gut gefiele. Mein Onkel war mindestens so verblüfft wie ich, ließ sich aber nichts anmerken. Beiläufig erfuhr er, dass man in Prag über gewisse „Vorkommnisse“ in Schlesien sehr besorgt sei, mit Rücksicht auf das slawische Brudervolk der Polen aber von einer offenen Kritik absehe. Für mich persönlich bedeutete dieser Wandel, dass ich Asyl erhielt und mich ohne spezielle Auflagen in der Tschechoslowakei aufhalten konnte. Wegen unerlaubten Grenzübertritts musste ich allerdings noch 90 Kronen Strafe zahlen.

      Ende August 1946 lag beim Abendtisch neben meinem Teller ein Brief, an dessen Anschrift ich sofort erkannte, dass es Post von meiner Mutter war. Sie teilte mir mit, dass die Familie nach der Vertreibung aus Schlesien in Braschoß, einem Ort in der Nähe von Siegburg und Bonn, angekommen sei. Wenn ich wollte, könnte ich zu ihnen kommen. Diese Nachricht löste hektische Überlegungen aus. Mein Onkel erklärte, er kenne die Gegend. Er habe in Bonn studiert und bei Ausflügen das Land kennen gelernt. Es handle sich um eine ganz arme Region. Die Erwerbstätigen seien gezwungen, zum Beispiel aus Much – er nannte ausdrücklich diesen Ortsnamen – morgens um vier Uhr loszulaufen, um rechtzeitig in der etwa 20 Kilometer entfernten Arbeitsstelle in Siegburg einzutreffen. Wenn sie nachmittags gegen 18 Uhr nach einem mehrstündigen Fußmarsch wieder in Much einträfen, müssten sie sich um ihre kleine Landwirtschaft kümmern, von der allein sie ohne die Fabrikarbeit nicht leben könnten. Ihre Frauen müssten nachts losgehen, um rechtzeitig ab 8 Uhr auf dem Markt in Siegburg Butter und Eier anbieten zu können. Die Leute lebten in kleinen Häuschen aus Fachwerk, die schon für die bisherigen Bewohner zu klein seien. Er könne sich kaum vorstellen, wie zusätzliche Leute dort untergebracht und ernährt werden könnten. Dagegen fehle es mir hier in der Tschechoslowakei an nichts. Nicht einmal auf die tägliche Schüssel Erdbeeren müsse ich verzichten. Ich war hin- und hergerissen. Ich konnte keines der Argumente widerlegen und fühlte mich in Langendorf mehr als gut aufgehoben. Auf der anderen Seite riet mir eine innere Stimme, Eltern und Geschwister nicht aufzugeben. So entschied ich mich – nach einer Woche langen Schwankens – für eine Ausreise aus der Tschechoslowakei.

      Jetzt ging alles extrem schnell. Da es aus politischen Gründen einen fahrplanmäßigen Reiseverkehr nach Deutschland nicht gab, bot sich als Verkehrsmittel ein Zug mit vertriebenen Sudetendeutschen an. Davon fuhr im Jahre 1946 nur noch einer und zwar in 14 Tagen um den 10. September 1946. Als anerkannter Asylant gehörte ich an sich nicht in einen solchen Zug. Von den Sudetendeutschen wurde ich deshalb als Exot bestaunt, zumal ich unbeschränkt Gepäck mitnehmen durfte und mit einer großen mit Wäsche vollgepackten Kiste und dem üblichen Handgepäck zur Abfahrt des Zuges erschien. Nachdem die Kiste mangels eines anderen Platzes in dem Eingangsbereich des 3. Klasse-Wagens abgestellt war, war mein Aufenthalts- und Schlafbereich für die Reise nach Deutschland festgelegt. Die Abteile waren belegt. Für mich als Nachzügler dieses Transports blieb nur die Kiste übrig, die ich ja gegen Diebstahl schützen musste. Die Stimmung in dem Zug war eigenartig. Es überwog nicht das Gefühl des Verlustes der Heimat, sondern das der Befreiung von einem Zustand