Kristina Schröder

FreiSinnig


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Leben? Weniger, eindeutig. Aber wiegt es so gering, dass es von Politik und Gesellschaft dermaßen weitgehend ignoriert werden darf? Wenn Jüngere all diese meist unwiederbringlich verlorenen Erfahrungen auch nur thematisierten, wurde ihnen oft beschieden, sie sollten sich nicht so anstellen. Damals im Krieg habe man auch auf vieles verzichten müssen. Gleichzeitig wurde im Frühling 2021 lange vor den Öffnungen der Schulen beschlossen, dass Friseure ihre Salons wieder aufschließen dürfen – natürlich wie bei fast jeder Öffnung unter Inkaufnahme eines gewissen Infektionsrisikos. Dies sei auch „eine Frage der Würde älterer Menschen“, so hieß es einfühlsam in der Pressekonferenz nach der Sitzung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten. Nur ein bisschen von dieser Empathie gegenüber den Bedürfnissen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land wäre schon schön gewesen. Und angebracht.

      Zumal auch die Pubertät eine Lebensphase hoher Vulnerabilität ist, nämlich psychischer Art. Große systematische Studien fehlen noch, aber aus Berlin und Tübingen hören wir, dass sich die Einweisungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der zweiten und dritten Welle fast verdoppelt haben. Depressionen, Schlafstörungen, Phobien, suizidale Gedanken und besonders Essstörungen nehmen in Deutschland nach übereinstimmenden Berichten aus der Praxis bei Jugendlichen deutlich zu.

      Und dann sind da noch die Kinder und Jugendlichen, die gar kein sicheres Zuhause haben. Die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité verzeichnet im ersten Halbjahr 2020 rund 23 Prozent mehr Fälle als im Jahr zuvor, festgestellt wurden insbesondere schwere Verletzungen wie Knochenbrüche oder Würgemale. Laut polizeilicher Kriminalstatistik stieg 2020 die Zahl der vorsätzlich oder fahrlässig getöteten Kinder in Deutschland um rund ein Drittel auf 152 Fälle an.

      Bei aller Vorsicht vor monokausalen Erklärungsmustern: Es spricht viel dafür, dass einige dieser Kinder ohne die Lockdowns noch leben könnten, viele hätten vermutlich weniger brutale Gewalt erfahren. Und auch die zusätzlichen schweren psychischen Erkrankungen wie Depression und Essstörungen werden viele Betroffene ihr Leben lang nicht mehr loswerden oder sogar daran sterben: Magersucht etwa endet in zehn bis 15 Prozent der Fälle mit dem Tod. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es bei der Diskussion über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen eben nicht um Kosten lediglich ökonomischer Art geht, die dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit gegenüberstehen, wie es oft bewusst simplifizierend dargestellt wird. Sondern die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie führten teilweise ihrerseits zu anderen Gefahren für Leib und Leben. Ein Leben, das Jugendliche eigentlich erst noch vor sich haben.

      Um solch gravierende Schäden zu rechtfertigen, bedarf es eines hohen Nutzens. Dass dieser durch Schulschließungen erreicht würde, war zu Beginn der Pandemie eine durchaus plausible Annahme. Es gab im Frühjahr 2020 gute Gründe, erst einmal davon auszugehen, dass Kinder ähnlich wie bei der Influenza Treiber des Infektionsgeschehens sind. Schulschließungen könnten so einen entscheidenden dämpfenden Effekt haben, so die begründete Erwartung.

      Klar war dabei aber auch, dass der erhoffte Nutzen nicht primär bei den Kindern selbst entsteht, sondern es in erster Linie um den Schutz der stärker gefährdeten Personengruppen ging. Und dieser Faktor hängt bei diesem Virus in besonderem Maß vom Alter ab, das Risiko eines 80-Jährigen, an Covid-19 zu sterben, ist 600-mal so hoch wie das eines 30-Jährigen. Den Kindern und Jugendlichen wurden die Schulschließungen also überwiegend fremdnützig auferlegt, so lautete das nur selten offen ausgesprochene, aber dennoch insbesondere zu Beginn der Pandemie breit akzeptierte Kalkül.

      In den Monaten danach wuchsen aber die Zweifel am tatsächlichen Nutzen dieses Vorgehens, insbesondere nachdem ab Mai 2020 viele europäische Länder die Schulen wieder öffneten und sich dort kein nennenswerter Einfluss auf das Infektionsgeschehen feststellen ließ – was ja die Frage aufwirft, ob und inwiefern die Schulschließungen überhaupt notwendig waren.

      Es begann ein zäher Kampf um die Bedeutung von Kindern und Jugendlichen für das Infektionsgeschehen, der vor allem deswegen besonders hart und emotional ausgefochten wurde, weil viele der beteiligten Akteure – so wie ich auch! – als Eltern persönlich stark betroffen waren. Beide Seiten präsentierten Studien für ihre Sicht der Dinge und ignorierten weitgehend die Erkenntnisse der Gegenseite.

      Mir scheint sich nach über einem Jahr Ringen um Deutungshoheit bei diesem Thema abzuzeichnen: Kinder und Jugendliche können sich infizieren und andere anstecken, sie nehmen am Infektionsgeschehen teil. Jugendliche entgegen mancher Hoffnungen aufseiten der Kritiker von Schulschließungen wohl im selben oder ähnlichen Umfang wie Erwachsene, Kinder vor der Pubertät entgegen der Befürchtungen aufseiten der Anhänger von Schulschließungen wohl in einem geringeren Maß als Jugendliche und Erwachsene.

      Während demnach bei Schulschließungen ab Klasse 7 zwar immer noch die Frage zu stellen und zu bewerten ist, ob der Nutzen tatsächlich den angerichteten Schaden überwiegt (ich tendiere zu der Auffassung: nein), muss aber dennoch konzediert werden, dass es in dieser Alterskategorie einen Nutzen in Form einer Dämpfung des Infektionsgeschehens wohl tatsächlich gab.

      Bei Grundschulen hingegen scheint mir die Frage nach wie vor offen zu sein, ob ihre Schließung wirklich Substanzielles zur Eindämmung des pandemischen Geschehens beigetragen hat. Denn das setzte voraus, dass es bei weiter offenen Grundschulen zu einer nennenswerten Weitergabe des Virus innerhalb (!) der Schulen gekommen wäre. Definitiv kann dies niemand beantworten, aber zumindest das RKI schätzt den Anteil von Kitas und Grundschulen am gesamten Transmissionsgeschehen als „niedrig bis moderat“, den Einfluss offener Kitas und Grundschulen auf schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle als „niedrig“ ein.

      Das erschwert natürlich die Argumentation, warum Schulschließungen überhaupt erforderlich sind – praktisch wie rechtlich. Und so wandelte sich die Begründung schleichend. Stand insbesondere im ersten Lockdown noch die Eindämmung des Infektionsgeschehens insgesamt im Vordergrund, dominierte spätestens mit dem Aufkommen der britischen Variante eine andere Begründung: Jetzt ging es angeblich um den Schutz der Kinder selbst. Begünstigt wurde diese neue Argumentation dadurch, dass sich in Großbritannien die Alpha-Mutante zunächst besonders an Schulen ausbreitete und es so aussah, als befiele sie tatsächlich stärker Kinder als der Wildtyp. Dies stellte sich allerdings bald als Artefakt heraus, selbst Christian Drosten gab in diesem Punkt früh Entwarnung. Dennoch setzte sich das Bild fest. Auf Twitter behaupteten insbesondere Aktivisten der Initiative „Bildung aber sicher“ im Winter 2020/2021, in Großbritannien hingen immer mehr Kinder auf den Intensivstationen „an Beatmungsschläuchen“, die Münsteraner Virologin Jana Schroeder ließ sich im März 2021 gar zu der düsteren Warnung hinreißen: „Passt gut auf euch und eure Kinder auf – die Regierung macht das nicht …“, und wurde dafür, oft unter dem Hashtag #SchulenundKitaszu, von Tausenden gefeiert. Und längst gab es eine ernsthafte Debatte darüber, ob es überhaupt verantwortbar sei, Schulen wieder zu öffnen, bevor nicht auch alle Kinder geimpft sind – also nach heutigem Stand frühestens 2022.

      Untermauert wurden diese Warnungen mit Verweis auf das Pädiatrische Inflammatorische Multiorgan-Syndrom (PIMS), das im Zusammenhang mit dem SARS-2-Virus steht, und auf Long-Covid bei Kindern. Wie bei der Frage der Bedeutung von Schulschließungen für das Infektionsgeschehen ist es für den medizinischen Laien schwierig, sich ein eigenständiges Bild zu machen. Aber auch hier scheinen mir die zu Beginn der zweiten Welle sehr schrillen Warnungen zunehmend leiser zu werden. Bei den Studien zu Long-Covid zeigt sich ein auffälliger Einfluss der Methode: Befragungen der Eltern ergeben meist eine recht hohe Betroffenheit genesener Kinder von Long-Covid, Studien mit Vergleichsgruppen hingegen meist keinen Unterschied zwischen den Kindern, die Corona hatten, und denen, die es nicht hatten. Handelt es sich bei Long-Covid bei Kindern also doch eher um Long-Lockdown?

      Die Tatsache, dass die Ständige Impfkommission (Stiko) im Juni 2021 bei gesunden Kindern das Risiko einer Schädigung durch die Impfung als höher betrachtete als das Risiko einer Schädigung durch die Erkrankung, lässt auf jeden Fall den Schluss zu, dass zumindest dieses 18-köpfige interdisziplinäre Expertengremium, das beim Robert-Koch-Institut angesiedelt ist, keine besonders hohe Gefahr durch Covid 19 für Kinder erkennen kann. Der Chef der Stiko, der Virologe Thomas Mertens, wagte als Gast im NDR-Corona-Podcast im Juni 2021 sogar den verpönten Vergleich mit der Grippe: „Man kann generell sagen, dass es keinen Aspekt gibt, dass Covid-19