Rasa Aškinytė

Kleines Bernstein


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das dein Mann schon besitzt oder noch mitbringen wird.«

      Selija lachte. Sie hatte noch nie davon gehört, dass Silber Herz und Gedanken nicht milder stimmte, die Gottesfurcht nicht verringerte.

      »Selija, du hast alles, ich habe nur ein Bein voller Wolfsbisse. Aber ich brauche nicht mehr«, sagte die Frau ganz ruhig.

      ›Den Menschen, dem es an nichts fehlt, gibt es nicht‹, dachte Selija bei sich. ›Auch du, Alte, hättest gern etwas.‹

      »Ich werde Gondas sagen, er soll dich in den Wald werfen, dann hast du niemanden mehr, für den du deine stinkenden Salben zubereiten kannst; niemand wird dich mehr brauchen, dann kannst du die Wölfe heilen, die dir das Bein zerfleischt haben.«

      »Selija, du wirst die Göttermutter erzürnen. Tu das nicht, Selija.«

      »Mein Mann Gondas ist stark und reich. Ich kann machen, was ich will.«

      Die alte Frau zuckte zusammen. Sie konnte alles, aber Selija überstieg ihre Kräfte. Selija besaß weder Herz noch Verstand, Selija konnten nicht einmal ihre allerbesten Salben helfen.

      Die Frau humpelte, das Bein mit den Wolfsbissen hinter sich herziehend, zur Wand, nahm eine gute Handvoll getrockneten Stechapfel, Bilsenkraut, dazu je ein paar Zweige vom einen und anderen Kraut, Samen und kochte alles zusammen auf. Sie rührte nicht um, diesen Trunk durfte man nicht rühren.

      Dann goss sie ihn in ein kleineres Tongefäß, ein hübsches, das sie erst kürzlich getöpfert hatte, zusammen mit allen Kräutern, verbeugte sich vor der Göttermutter, verzeih mir, wir haben nicht immer die Wahl, und reichte Selija das Gefäß.

      Das Blut erschien, und das Leben kehrte in seine gewohnten Bahnen zurück. Den restlichen Trunk goss Selija nicht weg, sondern bewahrte ihn für das nächste Mal auf.

      4. Nebel

      Kirnis trug ein weiteres Bündel trockenes Brennholz herum, das er selbst hackte und zu so großen Scheiterhaufen aufstapelte, dass es für all die Winter reichen würde, die ihm noch blieben. ›Warum nur schleppst du, Kirnis, du alter Krieger, Brennholz durch die Gegend, wie oft haben wir dir doch schon gesagt, dass du das Deine getan, dem Anführer nach Kräften gedient hast. Dein Schild und dein Speer stehen an die Wand gelehnt in deiner Hütte und warten darauf, mit dir im Grab ihre letzte Ruhe zu finden.‹ Aber was konnte man einem Greis schon sagen, welcher uralte Greis würde denn auf einen hören?

      Kirnis zwängte sich mit einem weiteren Bündel Brennholz an Selija vorbei durch die Tür, an einem Fuß ein luxuriöser Lederstiefel, unterhalb des Knies zugeschnürt mit einem Riemen, dessen Schnalle glänzte, und Glöckchen daran, die leise klingelten – klingeling –, wenn Kirnis langsam seine alten Beine anhob, ein luxuriöser Lederstiefel, den Kirnis einem Germanen vom Fuß genommen hatte, nachdem er zuvor seine Brust mit seinem langen, meisterhaft gefertigten Speer durchbohrt hatte. Kirnis sagte, da sei auch ein anderer Schuh gewesen, vom selben Germanen, genauso schön, gleichfalls aus Leder, mit Riemen und Anhängern, sogar die Bewohner anderer Siedlungen seien gekommen, um ihn sich anzusehen, so schön und einzigartig sei er gewesen, nur glaubt ihm das kaum einer mehr, denn Kirnis’ anderes Bein war mit Pelzen umwickelt, sowohl im Sommer als auch im Winter, Kirnis war weder kalt noch heiß, doch die Anhänger bimmelten immer – klingeling.

      »Kirnis, du lieber Kirnis, du uralter Greis, wo ist denn dein Schuh, wo ist dein Verstand?«

      »Verbrannt«, erwiderte Kirnis, er sagte immer dasselbe.

      »Wirklich verbrannt«, sagten die Älteren, die sich noch daran erinnerten. Damals, vor langer Zeit, als Gondas noch nicht gehen konnte und sich erst langsam auf die Beine stellte, erhielt sein Vater eine Nachricht, ob gut oder schlecht, weiß allein die Göttermutter. Julian, der für Kaiser Nero die Gladiatorenkämpfe veranstaltete, hatte Gesandte an die Ostseeküste geschickt, um Bernstein für ihn zu erwerben. Eine Gruppe Reiter, einige Händler und viele weitere Männer waren schon seit einer Woche am Meer unterwegs und tauschten allen Bernstein, den die Küstenbewohner gefunden hatten, gegen Geld ein. Man sagte, sie seien vierzig Tage lang ohne Rast gereist und deshalb wütend und erschöpft angekommen, ihre Pferde prusteten und scharrten mit den Hufen den Boden, glänzten in der Sonne – der Schweiß und die gute Rasse –, die Reiter stellten Schilde und Schwerter auf den Boden, wie sie hier noch keiner gesehen hatte, ihre Händler aber waren friedlich und wussten genau, was sie wollten.

      Gondas’ Vater, der erfahrene Krieger und oberste Stammesführer, war benachrichtigt, man musste über das weitere Vorgehen entscheiden. Im Heiligen Hain wurde umgehend eine Versammlung der Männer des Stammes einberufen, sie besprachen die Angelegenheit, berieten sich mit der Göttermutter, und schließlich erkannten sie, dass sie selbst an die Küste reisen und nachsehen mussten. Nebel kann man nur vor Ort auseinandertreiben.

      Kirnis rückte die Schuhriemen zurecht, nahm seinen Schild und den Speer mit der schmalen und kurzen Spitze zur Hand, scharf genug, dass er bei Bedarf sowohl aus einiger Entfernung als auch aus der Nähe kämpfen konnte. Als zweitstärkster Mann folgte er auf Gondas’ Vater, Kirnis war schlau und erfahren, auch wenn es noch viele andere Männer gab, ging er immer neben dem Anführer und kämpfte um kein Haar schlechter.

      »Nein, Kirnis, du musst hierbleiben«, sagte Gondas’ Vater. Kirnis blinzelte in die Sonne schauend, schnappte nach Luft, wusste nicht, was er sagen sollte.

      »Jetzt, Kirnis, wo ich den Sohn Gondas habe, ist es deine Pflicht, dort zu sein, wo er ist, um ihn zu beschützen.«

      Kirnis blinzelte in die Sonne schauend, schnappte nach Luft, wusste nicht, ob das eine Ehre oder sein Niedergang war, doch dem Stammesführer widersetzt man sich nicht.

      Es verging kein Tag, und Gondas’ Vater versammelte die stärksten Männer und die schärfsten Speere – man konnte ja nie wissen, ob jene Krieger und Händler Gutes oder Böses im Sinn hatten, sie würden unsere Länder durchqueren, wer weiß, ob in Frieden oder raubend und mordend –, und sie setzten sich, kaum hatten sich die Morgennebel gelichtet, auf ihre Pferde oder liefen in Richtung Küste los, ihre Kinder und Frauen ließen sie in der Obhut von Kirnis und einiger Vertrauter zurück. Unruhe stellte sich ein. Kirnis wusste als alter Krieger mit gutem Riecher, was das bedeutete.

      Ein seltsames dumpfes Grollen kam immer näher, Kirnis wusste, das war kein Gewitter und auch keiner der anderen natürlichen Donner. Pferdehufe polterten über die Erde. Ihre Erde. Dem alten und mutigen Krieger Kirnis stockte das Herz. Am Klang erkannte er, wie ungleich die Kräfte verteilt sein würden. Diese verfluchten Langobarden, so nannten sie die Germanenstämme: Wer weiß, welcher genau es diesmal war, die Gotonen, Lugier oder auch Burgunden, grausam und gierig, sie hatten alle nur eins im Sinn – fette Beute. Kirnis hatte schon Siedlungen gesehen, die sie verwüstet hatten, obwohl er noch keinem von ihnen begegnet und auch keinen niedergekämpft hatte.

      Kirnis wusste, die wenigen Männer wären nicht genug, er wusste, dass die Schutzzäune mit den spitzen Pfosten die Langobarden nicht aufhalten würden. Sie mussten möglichst schnell fliehen, in die Erdhöhlen kriechen, die sie für das Getreide gegraben und von außen gut mit Mist abgedeckt hatten, vielleicht würden diese Scheusale sie ja dort nicht finden.

      ›Gondas. Ich muss immer da sein, wo er ist, und ihn beschützen.‹ Kirnis packte Gondas, steckte ihn unter einen Arm und stürmte wie ein Wilder davon. Den Speer in der einen Hand, den Schild in der anderen, die Mutter folgte ihm laut kreischend, sie begriff vielleicht nicht einmal, was in ihn gefahren war, warum er mit ihrem Kind davonlief, mit ihrem Leben, sie hatte doch kein anderes; die vom Geschrei geweckten Leute aber, alte Männer und Frauen liefen ihnen samt den Kindern hinterher. Jetzt hörten alle das Grollen, ihre Herzen blieben vor Angst stehen, die Füße zertrampelten das Getreide, wer weiß schon, ob sie es überhaupt noch brauchen würden.

      Es schrie nur die Mutter, ihr hatte jemand das Kind weggenommen, die anderen schwiegen beim Rennen, bewahrten den letzten Schrei für den Abschied auf, wenn ein Langobardenspeer sich in ihren Rücken bohren würde oder auch ein Schwert in ihr Herz.

      5. Met

      Kirnis