nicht zu vertreten wagt, der sich ohnmächtig wähnt gegen die Übermacht des Anderen. Die Genesis des Ressentiments beginnt in den allzu menschlichen Affekten, die dem Unterlegenen, dem vielfach Unterlegenen, von seinen Niederlagen her zuwachsen. Der Zorn, der Groll, der Hass, die Verbitterung, der Rachedrang – die Bosheit, die sich von ihnen nährt. Und all dem gegenüber: die Ohnmacht, diese negativen Affekte ins Konfliktgeschehen hineinzutragen, ihnen Ausdruck zu geben, sie den spüren zu lassen, dem sie gebühren. Nietzsche charakterisiert den Ressentimentmenschen als denjenigen, dem »die eigentliche Reaktion, die der That« versagt bleibt; und der sich darum nur mit dem Mittel der »imaginäre[n] Rache« schadlos halten kann.6 Er ist derjenige, der dem Konflikt machtlos gegenüber steht, stattdessen »das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen« wählt.7 Es ist diese Hemmung, dies Nicht-Ausagieren der angesichts der Niederlage, der Herabwürdigung und Kränkung nur natürlichen Affekte, durch die das Ressentiment Eingang in die menschliche Psyche findet. Sie befördert die ressentimentale Doppeldeutigkeit – bestehend aus dem wiederholten Erleben des Schmerzes und dem sich davon ableitenden Wunsch nach Rache – herauf.
OHNMACHT, AFFEKTHEMMUNG, SELBSTVERGIFTUNG
Scheler identifiziert im Racheimpuls die gewichtigste Keimzelle des Ressentiments – worauf dessen Wortbedeutung ja bereits hinweist. Er erweist sich als reaktive Gemütsbewegung, als »Antwortsreaktion«, die Scheler dezidiert von aktiven oder aggressiven Impulsen unterscheidet: »Jedem Racheimpuls muß ein Angriff oder eine Verletzung vorhergegangen sein«. Er ist nicht primär, nicht originär – und gleich dem Racheimpuls ist auch das Ressentiment, das einmal aus ihm erwachsen mag, wesentlich Reaktion, ein Antwortgeschehen, das erst von einem ursprünglicheren und äußeren Reiz evoziert wird. Der Racheimpuls muss wiederum von anderen reaktiven Impulsen unterschieden werden: dem Akt der Verteidigung, dem Gegenschlag etwa. Während diese eine unmittelbare Reaktion darstellen, kommt bei der Rache die genannte Impulshemmung zum Tragen: die Gegenreaktion wird hier zumindest zeitweilig suspendiert und auf eine günstigere Zeit und eine bessere Gelegenheit verschoben. Gleichwohl ist der Racheimpuls – gleich anderen reaktiven Affekten wie »Hass, Bosheit, Neid, Scheelsucht, Hämischkeit« – noch nicht Ressentiment. Sie gehören allesamt zum »Grundbestande der menschlichen Natur«, sind natürlicher und durchaus gesunder Bestandteil des menschlichen Gefühlshaushalts.8 Aber sie haben das Potential, zu Ausgangspunkten und Entwicklungsstadien der Ressentimentbildung zu werden. Dieses Potential eignet ihnen als Antwortreaktionen auf erlittene Verletzungen und Kränkungen – es entfaltet sich, wenn sie in der Abreaktion gehemmt werden. Um diesen Affekten die ihnen angemessene Abfuhr zu verschaffen, müssen sie situativ ausagiert werden – etwa durch den »adäquaten Ausdruck der Gemütsbewegung«, also durch tätliche Verteidigung, durch das Ausholen zum Gegenschlag, oder zumindest durch spontanen Protest gegen die gerade erlittenen Verletzungen, kurz: das Benennen und Austragen des Konflikts. Dies kann alternativ durch »sittliche Überwindung« geschehen: etwa durch eine aufrichtig empfundene Entschuldigung des Aggressors, die dem Verletzten zur Genugtuung gereicht und das beschädigte Ehrgefühl wieder herstellt, und/oder durch »echtes Verzeihen« des Verletzten. Es mag ferner dadurch geschehen, dass dieser mit der Zeit schlicht seinen Frieden mit der Ehrverletzung durch den Anderen macht, sie verarbeitet, verwindet. In jedem Fall: wer sein Racheverlangen, seinen Hass oder seinen Neid ungehemmt auslebt, verfällt – Schelers Logik zufolge – nicht dem Ressentiment.9 Die Bedingungen zu seiner Entstehung sei lediglich da gegeben, »wo eine besondere Heftigkeit dieser Affekte mit dem Gefühl der Ohnmacht, sie in Tätigkeit umzusetzen, Hand in Hand geht, und sie darum ›verbissen‹ werden«.10 Dieser Hemmung der reaktiven Affekte liegt ein »ausgeprägtes Gefühl des ›Nichtkönnens‹, der ›Ohnmacht‹« zugrunde. Es äußert sich in der Furcht, bei einem direkten Konflikt zu unterliegen, der durch die unmittelbare Gegenreaktion ja unausweichlich würde. Das Ohnmachtserlebnis ist ein unhintergehbarer Aspekt des Erlebniszusammenhangs und Grundvoraussetzung der Ressentimentbildung überhaupt.11
Das Nicht-Ausagieren dieser Affekte führt dazu, dass sie keine ihnen angemessene Abfuhr erfahren, sie darum in ihrem Träger verbleiben und in ihm sozusagen fortdauern. Sie werden re-sentimental. Deleuze schreibt: »Im Wort ›Ressentiment‹ steckt ein überdeutlicher Hinweis: Die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt (senti)«.12 Das Präfix »Re-« deutet zudem den repetitiven Charakter dieses Prozesses an: das Wiederfühlen, das Wiedererleben und -durchleben der Unterlegenheit, der aus ihr resultierenden Verletzungen, der Schmach. Gleiches gilt für die daraus erwachsenden, eigentlich gesunden Affekte und das durchdringende Gefühl der eigenen Ohnmacht. Das wiederholte Durchleben und Durchleiden hält die ressentimentalen Affekte im Gefühlshaushalt ihres Trägers und erzeugt in ihm eine hartnäckige, allmählich an Kraft gewinnende Unterströmung. Und auch die Ohnmacht verschwindet ja nicht einfach wieder – sie wird im Gegenteil mit jeder negativen Erfahrung dieser Art verstärkt und verfestigt. Die daraus resultierende Hemmung mag am Anfang eine nur hin und wieder situative Reaktion auf den Konfliktfall sein. Sie wird ressentimental, wenn sie sich bald als gängiges Konfliktmanagement etabliert. Scheler charakterisiert das Ressentiment als eine »dauernde psychische Einstellung«, die »durch systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen« entsteht.13 Die Hemmung der Affekte wird über einen langen Zeitraum habitualisiert, sie wird strukturell, wird zu einer ›bewährten‹ Strategie. Es gibt nicht nur die eine einmal erfahrene Niederlage, die im Re- des Sentiments wieder und wieder durchlebt wird; ihr folgen unweigerlich immer neue Niederlagen und Kränkungen, immer neue Präzedenzfälle der eigenen Ohnmacht, die dann wiederum immer wieder durchlebt werden. So entsteht allmählich ein undurchdringliches Gewebe aus immer neuen Erfahrungen realer Niederlagen sowie immer neu erfahrener imaginierter Niederlagen – und einem bald unüberwindlich werdenden Ohnmachtsgefühl. So führt das unbefriedigende Verbleiben dieser unbefriedigten Affekte allmählich zur Akkumulation derselben: sie lagern sich über einen langen Zeitraum ab, gleich Sedimenten, füllen den Gefühlshaushalt Schicht um Schicht auf mit einer ganzen Phalanx negativer Empfindungen, verfüllen dabei nicht zuletzt dessen Variationsvielfalt – ihr Träger ist immer häufiger immer wütender, bis sich Wut schließlich wie ein Normalzustand anfühlt und er zugleich für andere Gefühlslagen immer unzugänglicher wird. So sinkt das Ressentiment allmählich »in das Zentrum der Persönlichkeit« ein.14 Es wird zu einer bestimmenden Größe in dessen Gefühlshaushalt.
Der ewig Unterlegene, der an seiner Ohnmacht Leidende, bildet zwangsläufig ein prekäres Selbstbild und Selbstverhältnis aus. Er ist in einer Art kreisender Erfahrung gleichsam zuhause, in der ihm die eigene Person, die eigene Identität und der Wert derselben zutiefst fragwürdig werden muss. Aus dieser Perspektive wird denn auch verständlich, wenn Scheler neben der Rache auch dem Neid, als zweiter zentralen Quelle des Ressentiments, höchste Bedeutung beimisst. Der an der Fragwürdigkeit des eigenen Werts Leidende erfährt die bloße Existenz des Überlegenen als Affront gegen die als minderwertig empfundene Selbsterfahrung – ein Affront, weil ihm die eigene Minderwertigkeit daran schonungslos bewusst gemacht wird. Aber zugleich schielt er auch neidvoll auf den Überlegenen, den scheinbar Selbstgewissen und Selbstbewussten. Dieser verkörpert, was sich der Unterlegene für sich selbst wünscht und unter dessen Ermangelung er zutiefst leidet. Neid an sich ist ein wesentlicher Bestandteil des Ressentimentphänomens. Er führt aber gerade und vor allem dann zur Ressentimentbildung, wenn er sich nicht auf erwerbbare ›Güter‹ oder ›Werte‹ bezieht – bei denen immerhin die reale, mindestens theoretische Möglichkeit besteht, sie sich anzueignen –, sondern auf grundsätzlich Unerwerbbares. Je ohnmächtiger der Neid wird, je unerreichbarer das Geneidete, desto unerträglicher ist er. Der Neid, der am stärksten zur Ressentimentbildung neigt, ist der auf »das individuelle Wesen und Sein einer fremden Person« gerichtete – ein Phänomen, für das Scheler den Begriff »Existentialneid« prägt. »Dieser Neid flüstert gleichsam fortwährend: ›Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, daß du bist und das Wesen bist, das du bist; nur nicht, daß nicht ich bin, was du bist; ja daß ›ich‹ nicht ›du‹ bin.‹ Dieser ›Neid‹ entmächtigt die fremde Person von Hause aus schon ihrer bloßen Existenz, die als solche als ›Druck‹, ›Vorwurf‹, furchtbares Maß