Johann Christoph Klotter

Einführung Ernährungspsychologie


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erweiterte das Feld der Psychosomatik. Er ging davon aus, dass die Psyche nicht nur Auswirkungen auf den sensomotorischen Bereich haben könnte, sondern auf den gesamten Körper.

      spezifischer Konflikt – spezifische Krankheit

      Mitte des letzten Jahrhunderts stand die Psychosomatik im Zenit. Die damalige Psychosomatik verfolgte den Traum, eine bestimmte körperliche Erkrankung mit einer bestimmten Persönlichkeit oder mit einem bestimmten psychischen Konflikt in Zusammenhang zu bringen, anstatt die eben beschriebene Vielschichtigkeit der Ursachen anzuerkennen. Dieses In-Beziehung-Setzen von Persönlichkeit und Krankheit wurde damals durchaus auch mit empirischen Studien verfolgt. Es stützte sich also nicht nur auf psychotherapeutische Gespräche. Zwar gab es durchaus auch ermutigende Ergebnisse (Adler 2003), dennoch ist man heute, wie bereits erwähnt, davon abgekommen, einer bestimmten Erkrankung eine bestimmte Persönlichkeit zuzuweisen. Trotzdem sind die Wissensbestände aus der damaligen Zeit für das Heute keineswegs sinnlos. Sie können Interpretationsfolien für die klinische Arbeit bilden. Oder sie können Grundlage empirischer Forschung werden. Franz Alexanders Überlegungen zu Bluthochdruck, wonach bestehende aber nicht gezeigte Aggression zu einem erhöhten Blutdruck führt, hat die psychophysiologische Forschung zu Bluthochdruck stark inspiriert.

      Diese Interpretationsfolien der Psychosomatik können aber auch verwirren. Um dies zu veranschaulichen, soll exemplarisch auf die psychosomatischen Ansätze zur Adipositas im deutschsprachigen Raum für den Zeitraum der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts eingegangen werden (Klotter 1990). Adipositas wird in Zusammenhang gebracht mit emotionaler Leere, Habgier, allgemeinem Versagen, Zurückhaltung, Ängstlichkeit, Empfindlichkeit, Misstrauen, Infantilität, Beschlussunfähigkeit, Anlehnungsbedürftigkeit, Beeinflussbarkeit, Haltlosigkeit, einem gestörten Verhältnis zum Körper, Gehemmtheit, Schüchternheit, Frigidität, Impotenz. Die Mütter der Adipösen seien selbst psychisch gestört und verwöhnten das Kind zu sehr. Die Ehefrau könne in die Adipositas fliehen, um sich den Anforderungen der Ehe zu entziehen. Kurzerhand: Nahezu alles wird mit Adipositas in Verbindung gebracht. Derartige Psychosomatik ist dann für die klinische Arbeit nicht mehr hilfreich.

      körperlicher Einfluss auf die Psyche

      Somatopsychische Forschungsrichtung: Eine entscheidende Wende in der Geschichte der Psychosomatik bestand darin, nicht mehr nur von den Auswirkungen der Psyche auf den Körper auszugehen, sondern auch die andere, entgegengesetzte Wirkungsrichtung zu berücksichtigen: die somatopsychische. Die von Mirsky ausgehende Forschungsrichtung (Adler 2003) legt darauf Wert, dass somatische Faktoren bei der Entstehung psychosomatischer Erkrankungen beteiligt sind. Ein Ulcus-Leiden setzt demnach voraus, dass die Magensaftausschüttungen genetisch erhöht sind: „Prinzipiell ist zu bedenken, daß der hypersekretorische Typ von Geburt an mehr Hungerempfindungen haben wird; er wird als Säugling mehr schreien, gebieterischer, häufiger nach Nahrung verlangen.“ (Mitscherlich 1975, 34)

      Körperliche Einflüsse führen demnach zu einem anderen psychischen Erleben. Und nicht nur das: Die Mutter wird auf das hypersekretorische Kind voraussichtlich anders reagieren. Vielleicht wird sie überfordert sein, vielleicht wird sie ärgerlich und ungehalten angesichts des maßlosen Hungers des Kindes. Somatische Einflüsse kreieren so auch menschliche Interaktion.

      Wenn die Gene mit entscheiden, ob man adipös wird, dann hat dies möglicherweise Auswirkungen auf die Psyche: Die dadurch erheblich erschwerten Abnahmeversuche führen zu Resignation und eventuell Depression. In dieser Sicht würden die Adipösen nicht zu viel essen, weil sie depressiv sind, sondern sie würden depressiv, weil die Gewichtsreduktion so immens schwierig ist. Wenn in einer epidemiologischen Studie ermittelt worden ist, dass Adipöse depressiver sind als Normalgewichtige, sind prinzipiell beide Interpretationen möglich: die psychosomatische und die somatopsychische.

      soziale Dimensionen

      Das bio-psycho-soziale Modell: Die nächste entscheidendeWende in der Psychosomatik bestand darin, soziale Dimensionen von Gesundheit und Krankheit mit zu berücksichtigen. Dementsprechend nennt sich dieses das bio-psycho-soziale Modell (Engel 1996; Pauli 1996). Es beschäftigt sich mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren. Und es erkennt damit an, dass soziale Faktoren zentral an der Entstehung oder Aufrechterhaltung von Gesundheit und Krankheit beteiligt sind.

      Eine genetische Veranlagung zur Adipositas trifft auf eine Umwelt, die Adipositas überwiegend akzeptiert. Dann wird sich voraussichtlich wegen der Adipositas keine depressive Grundstimmung einstellen. Wenn aber wie noch vor 50 Jahren Wohlbeleibtheit bei Männern in Deutschland positiv bewertet wurde (Pflanz 1978), dann hatte damals ein schlanker Mann ohne genetische Veranlagung zur Adipositas Schwierigkeiten, den echten Mann darzustellen. Möglicherweise reagierte er darauf mit einem verminderten Selbstwertgefühl.

      Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit ist das derzeit vorherrschende. Es ist sicherlich das angemessenste Modell und zugleich das, das am schwierigsten zu erforschen ist. Nicht nur sind eine Vielzahl von Variablen zu ermitteln, diese Variablen interagieren untereinander auf die unterschiedlichsten Weisen im zeitlichen Verlauf. Von Individuum zu Individuum sind zudem die Interaktionen unterschiedlich. Einfache Ursache-Wirkungs-Gefüge, einfache Wenn-dann-Beziehungen greifen dementsprechend in keiner Weise mehr. Das bio-psycho-soziale Modell eröffnet eine Komplexität, die kaum noch zu erforschen ist.

      Die eben genannte Komplexität lässt sich also nicht einfach untersuchen. Eine Lösung für das Problem besteht darin, wohlgemerkt wissend um die Komplexität, auf simple Ursache-Wirkungs-Gefüge zurückzugreifen. Ein derart einfacher, damit auch darstellbarer, unilinearer Zusammenhang ist der somatopsychische. Mit ihm wird gefragt, wie der Körper die Psyche beeinflusst. Für den Gegenstand Ernährungspsychologie ist dann die Leitfrage, wie die Nahrungsaufnahme die Psyche beeinflusst.

      Am offenkundigsten lassen sich die Auswirkungen von Genussmitteln auf die Psyche beobachten. Alkohol kann die Stimmung heben, kann enthemmen und aggressiv machen. Kaffee und Tee wirken stimulierend (s. Hengartner/Merki 1999). Das in der Schokolade enthaltene Phenylethylamin soll zusammen mit dem Alkaloid Salsonilol Glücksgefühle auslösen. Der Genuss von Schokolade regt zudem die Produktion des Neurotransmitters Serotonin an, wodurch das Wohlbefinden gesteigert wird. Außerdem führt das Essen von Schokolade dazu, dass der Körper Endorphine produziert, was eine euphorisierende Wirkung hat (Pfiffner 1999).

      Überfluss – Mangel

      Ebenso offenkundig ist, dass auch die Menge der zu sich genommenen Lebensmittel Auswirkungen auf die Psyche hat. Ein altes lateinisches Sprichwort veranschaulicht dies in der gewünschten Deutlichkeit: plenus venter non studet libenter (ein voller Bauch studiert nicht gerne). Nahrungsmangel hat ebenfalls spezifische Effekte. Montanari (1993) gibt Berichte aus Hungerzeiten wieder: So hätte der Blick der Hungernden wilde Raserei verraten. Oder ihre Gesichter seien von Erregung gezeichnet gewesen. Die katholischen Fastenregeln, also eine verminderte Nahrungsaufnahme – besonders von Fleisch –, zielen auch auf die Beeinflussung des Seelenlebens: Die sexuellen Triebimpulse sollen damit gemäßigt werden. Diese scheinen als große Gefahr wahrgenommen worden zu sein. So erklärt sich, dass es im Mittelalter dreimal im Jahr 40 Tage jeweils am Stück Fastenzeit gab. Zusätzlich kamen weitere, vereinzelte 40 Fastentage hinzu. Geschlechtsverkehr war an diesen Tagen streng verboten (Moulin 1989).

      Ein bestimmter somatopsychischer Zusammenhang wird auch heute noch diskutiert: Der Einfluss von Lebensmitteln auf das sexuelle Verlangen. So gelten einige Lebensmittel als Aphrodisiaka: z. B. Austern und Trüffel (Bombosch 1998). Ebenfalls wird heute noch diskutiert, dass etwa der Genuss bestimmter Lebensmittel