Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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eine Art Argumentationsbogen. Der könnte seinerseits interessant und aufschlussreich sein – und keineswegs nur für jene Leser, die der hochgradig speziellen Frage nachgehen, warum bestimmte theoriestrategische Weichenstellungen im Forschungsprogramm der Ordonomik so und nicht anders vorgenommen werden: Der rote Faden (und das Credo) dieses Buches besteht in der Überzeugung, dass die moderne Gesellschaft so überaus komplex geworden ist, dass der gesunde Menschenverstand einer möglichst leistungsfähigen und an klassischen Vorbildern geschulten Theorie bedarf. Ohne eine methodisch reflektierte Komplexitätsreduktion laufen wir Bürger nämlich Gefahr, buchstäblich die Welt nicht mehr zu verstehen – und sie dann auch nicht konstruktiv gestalten zu können.

       Halle, im Juni 2016 Ingo Pies

       [Zum Inhalt]

      |XII|Literatur

      Pies, Ingo (2006, 2015): Ökonomische Ethik: Zur Überwindung politischer Denk- und Handlungsblockaden, in: Ders.: Guter Rat muss nicht teuer sein. Ordonomische Schriften zur Politikberatung, Band 2, Berlin 2015, S. 299–308.

      Pies, Ingo (2009): Das ordonomische Forschungsprogramm, in: Ders.: Moral als Heuristik. Ordonomische Schriften zur Wirtschaftsethik, Berlin, S. 2–32.

      Pies, Ingo (2012): Wie kommt die Normativität ins Spiel? – Eine ordonomische Argumentationsskizze, in: Ders.: Regelkonsens statt Wertekonsens: Ordonomische Schriften zum politischen Liberalismus, Berlin, S. 3–53.

      Pies, Ingo (2014): Der wirtschaftsethische Imperativ lautet: Denkfehler vermeiden! – Sieben Lektionen des ordonomischen Forschungsprogramms, in: Hans Friesen und Markus Wolf (Hrsg.): Ökonomische Moral oder moralische Ökonomie? Positionen zu den Grundlagen der Wirtschaftsethik, Freiburg und München, S. 16–50.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (1995): John Rawls’ politischer Liberalismus, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (1996): James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (1997): Mancur Olsons Logik kollektiven Handelns, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (1998): Gary Beckers ökonomischer Imperialismus, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (1999): Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2000): Ronald Coase’ Transaktionskosten-Ansatz, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2001): Oliver Williamsons Organisationsökonomik, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2002): Walter Euckens Ordnungspolitik, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2003): F.A. von Hayeks konstitutioneller Liberalismus, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2004): Milton Friedmans ökonomischer Liberalismus, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2005): Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2006): Albert Hirschmans grenzüberschreitende Ökonomik, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2007): Thomas Schellings strategische Ökonomik, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2008): Jon Elsters Theorie rationaler Bindungen, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2009): Douglass Norths ökonomische Geschichtstheorie, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2010): Ludwig von Mises’ ökonomische Argumentationswissenschaft, Tübingen.

      |XIII|Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2011): William Baumols Markttheorie unternehmerischer Innovation, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2012): Edmund Phelps’ strukturalistische Ökonomik, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2013): Joseph Schumpeters Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, Tübingen.

      Pies, Ingo und Martin Leschke (Hrsg.) (2014): John Maynard Keynes’ Gesellschaftstheorie, Tübingen.

       [Zum Inhalt]

      |1|John Rawls (1921–2002)

      „How is it possible that there may exist over time a stable and just society of free and equal citizens profoundly divided by reasonable though incompatible religious, philosophical, and moral doctrines?“ John Rawls (1993; S. XVIII)

      John Rawls’ politischer Liberalismus

      Von Robert Nozick stammt der Satz, wer heute politische Philosophie betreibe, müsse sich entweder in den von John Rawls vorgezeichneten Bahnen bewegen oder zumindest begründen, warum er dies nicht tue. Obwohl dieses Diktum die zentrale Bedeutung des Rawlsschen Ansatzes betont, enthält es doch eine glatte Untertreibung, denn diese Bedeutung beschränkt sich keineswegs auf die politische Philosophie. Das Problem stabiler und gerechter Gesellschaften – genauer: das Problem, wie demokratische Gesellschaften Stabilität durch Gerechtigkeit erzeugen können – ist auch für die Sozialwissenschaften von unabweisbarer Relevanz. In besonderem Maße gilt dies für die neuere Ökonomik, die den Anspruch ihrer angelsächsischen Gründungsväter: Gesellschaftstheorie zu betreiben, wieder aufnimmt und dadurch reaktualisiert, dass sie klassische Fragestellungen mit nunmehr neoklassischen Analyseinstrumenten angeht.[3] Das Aufeinanderfolgen der Nobelpreise für Ronald Coase, Gary Becker und Douglass North spricht hier eine deutliche Sprache. Auch ist nicht zu übersehen, dass die Ökonomik einen eigenen Gerechtigkeitsdiskurs ausgebildet hat, an dem sich insbesondere liberale Ökonomen beteiligt haben. Im Rekurs auf die Nobelpreisträger der Jahre 1974 |2|und 1986, Friedrich August von Hayek und James M. Buchanan, lassen sich die hier interessierenden Grundzüge dieses Diskurses wie folgt skizzieren.

      1. Der ökonomische Gerechtigkeitsdiskurs

      Der Begriff „Gerechtigkeit“ ist ein Fokus nahezu aller gesellschaftspolitischen Probleme: Die Differenz zwischen reich und arm unter dem Aspekt gesellschaftlicher Integration wurde immer schon als Gerechtigkeitsproblem – z.B. als Problem des gerechten Preises –, seit dem 19. Jahrhundert spezifischer als Problem „sozialer“ Gerechtigkeit, als Problem des gesellschaftlichen Institutionensystems diskutiert.[4] Neben dem Problem des gerechten Friedens werden auch neuere Probleme mit Hilfe dieses Leitbegriffs thematisiert: Probleme der Ökologie als Fragen intergenerationeller Gerechtigkeit etwa oder das Nord-Süd-Problem als Frage einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. In demokratischen Gesellschaften mit institutionalisierten Öffentlichkeiten werden Politikprozesse weitgehend von solchen Gerechtigkeitsdiskursen gesteuert. Hier bilden sich jene Hintergrundvorstellungen, von denen es abhängt, wie die Bürger ihrer Gesellschaft gegenüberstehen: ob sie ihr innerlich frei zustimmen können, oder ob sie sie als ungerecht und illegitim empfinden – mit gravierenden Folgen für die Bestands- und Entwicklungsaussichten einer Gesellschaft sowie die Ausrichtung der in ihr ablaufenden Politikprozesse.

      Diese Funktion des Gerechtigkeitsbegriffs bringt Vor- und Nachteile mit sich. Ein besonderer Vorteil liegt zweifellos darin, dass Gerechtigkeitsdiskurse in bezug auf langanhaltende Probleme eine eigene Tradition ausbilden, die sich kritisch selbst rationalisiert und mit der Zeit das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger prägt, also mehr unbewusst als bewusst absorbiert wird und schließlich in die Intentionen und Intuitionen eingeht. Ein weiterer Vorteil besteht sicherlich darin, dass sich auch neu auftretende Probleme in Gerechtigkeitsdiskursen thematisieren lassen, ihre Verarbeitung daher in (vor)strukturierte Bahnen gelenkt und mit Hilfe von Routinen prozessiert werden kann. Gerade in der Aufnahmefähigkeit und der daraus resultierenden Vielfalt der Gerechtigkeitsdiskurse