dafür, ein quälendes, unerträglich gewordenes Leben zu beenden. Glücklicherweise sind sie unter konsequenter, fachgerechter Behandlung beherrschbar und klingen meistens ohne bleibende Folgen wieder ab.
Dieses Buch soll über die unterschiedlichen Depressionsarten und -formen aufklären. Im Folgenden werden daher die typischen Krankheitsbilder unter Einbeziehung von zwei Falldarstellungen demonstriert und beschrieben, verbunden mit Hinweisen auf Anfangssymptome, Erläuterungen der fachlichen Untersuchungsmethoden, die zur Diagnose führen, und Angaben über den üblicherweise zu erwartenden, weiteren Verlauf. Im diesem Zusammenhang werden die gängigen, aktuellen Hypothesen zu den Entstehungsrisiken und -ursachen skizziert bzw. die mehrdimensionalen Krankheitsmodelle reflektiert. Deutlich wird, wie breit das Spektrum des im Volksmund treffend Gemütskrankheit genannten Leidens ist, das ebenso als vorübergehende, allenfalls wochenlange Episode in Erscheinung treten, wie als schier endlose Bürde das Leben beschweren kann. Schließlich wird das Repertoire der modernen, allgemein-medizinischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen bzw. psychologischen Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen erläutert und begründet. Auch die Besonderheiten der Depressionen im Kindes- und Jugendalter werden einbezogen.
Alles in allem sollen entsprechende Kenntnisse zu einem besseren Verständnis für das vielgestaltige Krankheitsbild Depression verhelfen, um zu einem angemessenen, vielleicht auch versöhnlicheren Umgang damit zu finden. Das Wissen um diese Krankheit soll Mut machen vor den hohen Anforderungen an Geduld und Leidensfähigkeit, die eine Depression an alle unmittelbar Betroffenen und mittelbar Beteiligten stellt, Mut, nicht zu kapitulieren, sondern die veränderte Lebenssituation so erträglich wie möglich zu gestalten.
Den Interessen angehender Ärzte und Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter dürften eher die fachbezogenen, zusammenfassenden 9Informationen gerecht werden. Da die Erforschung von Krankheiten immer neue Erkenntnisse zutage fördert, ist der aktuelle Wissensstand wichtig, um Fortschritte in der Erkennung und Behandlung nutzen zu können. Andererseits sind nicht alle Ratschläge, Empfehlungen und Tipps, die samt neuen „Wundermitteln“ auf den Markt gebracht werden, von Vorteil; hier gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen und sich nicht von leeren Versprechungen blenden zu lassen.
Merksatz
Der Begriff Depression entstammt dem lateinischen Wort „depressus“ und bedeutet „niedergedrückt“. Er kennzeichnet einen schwer beschreibbaren, quälenden Verlust an Lebensfreude, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden.
Die häufig verwendete Bezeichnung depressive Störung kann insofern zu Missverständnissen führen, als sie nahelegt, es handele sich dabei um einen abgrenzbaren „Störfall“, etwa vergleichbar mit einer Blinddarmentzündung oder einem Magengeschwür. Tatsächlich berührt eine Depression als Ausdruck von „Leere und Stillstand“ jedoch als Erkrankung der gesamten Person fundamentale Bereiche menschlicher Existenz. Sie erfasst wie eine psychische Lähmung den ganzen Menschen, der unter einem durchdringenden, unerklärlichen Gefühl von Antriebsmangel, innerer Leere, Freudlosigkeit, Angst, Selbstunsicherheit, Pessimismus und Hoffnungslosigkeit leidet. Zudem stellen sich meist auch vielfältige körperliche Beschwerden ein, die keiner bestimmten Organkrankheit zuzuordnen sind. Der holländische Psychiater Piet Cornelis Kuiper beschrieb seine eigene, sich unter Schwankungen über drei Jahre hinziehende, schwere Depression 1991 überaus treffend als „Seelenfinsternis“. In Kunst und Literatur finden sich zahlreiche ähnliche Selbstschilderungen Betroffener – weit entfernt von jeder Heroisierung.
Merksatz
Depressionen sind verbreitete Krankheiten. Sie sind keine isolierte Funktionsstörung, sondern betreffen den ganzen Menschen, indem sie sich auf alle geistig-seelischen und körperlichen Funktionen, Fähigkeiten und Leistungen auswirken.
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Historie
Depressionen, gleich welcher Art und Ausprägung, sind nicht nur sehr verbreitet, sondern auch seit langem bekannt. Anhaltende Zustände trauriger Verstimmungen – Lebensepisoden von Schwermut, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung – gibt es wahrscheinlich, seitdem der Mensch existiert. Wahrscheinlich hängt dies mit dessen Fähigkeit zusammen, über sich und die Beschwerlichkeiten seines Lebens nachdenken zu können – ein Ergebnis mehrhunderttausendjähriger Evolution. Seelische Belastungen in Form von Ängsten, Kränkungen, Verlusterlebnissen, Demütigungen und Misshandlungen können ebenso wie andauernde körperliche Schmerzen, an denen gewiss auch der Frühmensch gelitten hat, jeglichen Lebensmut rauben. Jedenfalls zieht sich das Thema Lebensüberdruss wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte der Menschheit. Erste diesbezügliche schriftliche Hinweise finden sich in den „Gesprächen eines Lebensmüden mit seiner Seele“, festgehalten im Papyrus Berlin Nr. 3024 aus der 12. altägyptischen Dynastie um 1900 v. Chr. In der Bibel ist die Rede von trübsinnigen Anwandlungen des ersten israelitischen Königs Saul aus dem 1. Jahrtausend v. Chr., den sein späterer Schwiegersohn David mit dem Harfenspiel aufheitern sollte (1. Samuel 9,1).
Aber auch höher entwickelte Tiere, vor allem unsere nächsten Verwandten, die Primaten, zeigen Lethargie, Ängstlichkeit oder Aggressivität nach einschneidenden Veränderungen ihres gewohnten Lebensraumes bzw. ihrer Sozialkontakte, was angesichts der gemeinsamen Herkunft mit genetisch verblüffend ähnlicher Grundausstattung ohne Weiteres plausibel ist. Forschungsergebnisse der Pharmaindustrie aus der medikamentösen Behandlung solcher künstlich herbeigeführter tierischer Verhaltensänderungen lassen sich allerdings nur begrenzt auf den Menschen übertragen, da das Verhalten allenfalls auf Veränderungen bestimmter Hirnaktivitäten hindeutet, aus ihm jedoch nicht das innere Erleben der Tiere erschlossen werden kann. Dennoch lassen die äußeren Ausdrucksmerkmale zweifellos auch Rückschlüsse auf deren Befindlichkeit zu.
Was stand unseren Ur-Urahnen an Mitteln zur Linderung und Bewältigung der ebenso unberechenbaren wie unerklärlichen Beeinträchtigungen von Gestimmtheit, Aktivität und Kraft, die eine Depression kennzeichnen, zur Verfügung? Soweit die Schamanen und Medizinmänner der Frühzeit nicht durch Beschwörungszeremonien und Opfergaben die vermeintlich strafenden Dämonen zu besänftigen suchten, waren sie wahrscheinlich 11im praktischen Alltag darum bemüht, ihren Klienten durch besondere Zuwendung, Ablenkung oder Zerstreuung beizustehen, vielleicht schon – erste Anfänge einer Erfahrungsmedizin – mit Hilfe von Körperkontakt, Wärme und Licht, Kräuterextrakten und Pflanzensäften.
Die Wirkung letzterer war vermutlich sehr früh bekannt. Überliefert ist jedenfalls, dass in den mesopotamischen und ägyptischen Hochkulturen im 4. bis 3. Jahrtausend v. Chr. die gleichermaßen besänftigende wie euphorisierende Wirkung des Schlafmohns genutzt wurde; die Sumerer nannten den Mohn „Pflanze der Freude“. Der Einsatz seines Wirkstoffs Opium als Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel ist in der Medizin seit langem gebräuchlich, und bis in die Neuzeit wurde er in Form einer Tinktur auch als Antidepressivum verwendet. Kaiser Karl der Große war jedoch der erste, der Opium wegen seiner berauschenden Wirkung als Genussmittel ausdrücklich verbot. Noch immer wird aus unreifen Mohnkapseln der milchige Saft gewonnen, der eingetrocknet den Rohstoff Opium ergibt; Bestandteile sind u. a. Morphin und Codein (Heroin, das in der Drogenszene beliebteste, aber auch teuerste Rauschmittel, ist ein synthetisch hergestelltes Morphinpräparat).
Stechapfel, Mandragora, Tollkirsche, Bilsenkraut und Engelstrompete enthalten u. a. das giftige Skopolamin (Hyoszyamin), das in kleinen Dosen beruhigend und vegetativ stabilisierend wirkt. Es ist ebenso wie das entspannende und stimmungsaufhellende Cannabis aus dem Harz der (indischen) Hanfpflanze im assyrischen Herbal erwähnt, einer Rezeptsammlung aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., die 250 Pflanzenstoffe und andere Heilmittel enthält. In der altindischen und altchinesischen Medizin jener Zeit war der Hanf ebenfalls als Drogenpflanze gebräuchlich.
Der aufmunternde Effekt des Hypericumöls aus Johanniskraut, seit der Antike bekannt und fester Bestandteil der mittelalterlichen Klostermedizin, hat inzwischen seinen Platz im Arsenal antidepressiv wirkender Medikamente zurückgewonnen. Der Wander- und Wunderarzt Paracelsus (1493–1541) bezeichnete es als „Arnica der Nerven“.
Zu den ältesten Mitteln zur Auflockerung und Verbesserung der Stimmung gehört zweifellos der Alkohol. Im altägyptischen Papyrus Ebers (um 1600 v. Chr.) ist Palmwein wiederholt als Arzneibestandteil genannt, auch zum Einsatz gegen Schwermütigkeit. In den früheren Irrenanstalten war Alkohol