Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 3


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      Das alles haben die Frühromantiker bei der Lektüre des „Wilhelm Meister“ zunächst überlesen, aber schließlich haben sie es doch gemerkt, und die Enttäuschung war groß. Es kam zum Bruch mit den Weimarer Größen, zunächst mit Wieland, dann mit Schiller und schließlich auch mit ­Goethe. Die Romantiker verließen Jena, verließen den Dunstkreis ­Goethes. Friedrich Schlegel denunzierte ­Goethe vor dem mehr und mehr auf nationalromantische Vorstellungen gestimmten Publikum als einen „deutschen Voltaire“ (GU 1, 295), als einen irgendwie doch ein wenig platten und insofern undeutschen Aufklärer, und bald hat

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      man sich trotz des einen oder anderen Wiederannäherungsversuchs nur noch bekämpft.

      Die Schimäre der „Hochklassik“

      Und damit ein letztes Mal zurück zum alten Epochenschema. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Zeit der sogenannten Hochklassik, daß insbesondere jenes „klassische Jahrzehnt“, das der Höhepunkt der Geschichte der deutschen Nationalliteratur gewesen sein soll, zwar eine äußerst bewegte, an literarischen Aktivitäten reiche, produktive Zeit gewesen ist, daß hier aber keineswegs das eingetreten ist, was man als Durchbruch zu einem kraftvollen und durch nichts zu irritierenden Selbstbewußtsein der deutschen Kultur im Zeichen des einen, alle verbindenden deutschen Volksgeists und zu einer Literatur von unüberbietbarer ästhetischer Vollendung hat begreifen wollen. ­Goethe ist durch die Französische Revolution verunsichert und erprobt die verschiedensten literarischen Modelle, und neben ihm und seinen Weimarer Mitstreitern Wieland, Herder und Schiller wächst die romantische Bewegung heran, die letztlich ganz andere Ziele verfolgt als die Weimarer Klassik. Der Epochenbegriff Hochklassik faßt, insofern er eine einzige durchgreifende Tendenz, einen einheitlichen Geist der Jahre 1794 bis 1805 behauptet, kaum etwas von dem, was die Literatur damals wirklich beschäftigte. Es sind Jahre eines Auseinanderlaufens der Bestrebungen, eines sich immer mehr verschärfenden Konflikts zwischen Klassik und Romantik, zwischen Aufklärern „trotz alledem“ und Gegenaufklärern.

      Jenseits der literarischen Fronten

      Vollends unhaltbar wird die Vorstellung vom „klassischen Jahrzehnt“, wenn man sich vor Augen führt, daß in diesen Jahren neben den Weimarer Klassikern und den Romantikern eine ganze Reihe von Autoren aktiv waren, die sich weder der einen noch der anderen Seite zuschlagen lassen und die doch das Bild der Epoche wesentlich mit prägen. Zu diesen Einzelgängern jenseits der literarischen Fronten sind vor allem zu zählen: der alte Klopstock, der in der ­Goethezeit eine letzte produktive Phase durchlebte und nach wie vor sein Publikum hatte, Karl Philipp Moritz, ein Autor, der lange Zeit vergessen war, dessen Werk jedoch in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebte und in der Germanistik besonders große Beachtung fand, Jean Paul, der meistgelesene Autor der Epoche neben ­Goethe, und schließlich ­Hölderlin und Kleist, letztere seinerzeit sehr viel weniger erfolgreich als ­Goethe, Schiller oder Jean Paul, aber gerade aus heutiger Sicht aus

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      dem Bild der Epoche nicht wegzudenken; denn von allen Autoren der ­Goethezeit sind sie von denen, die die Moderne des 20. Jahrhunderts gemacht haben, am meisten geschätzt und am intensivsten studiert worden.

      Im folgenden sollen zunächst diese fünf Einzelgänger näher ins Auge gefaßt werden. Denn so läßt sich eine Perspektive auf die ­Epoche entwickeln, die besonders weit von dem alten Epochenschema wegführt und die insofern in besonderem Maße dabei helfen kann, sich von all dem zu lösen, was es der Auseinandersetzung mit der Literatur der ­Goethezeit an Hindernissen in den Weg legt.

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