Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 3


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und daß es da um das „faustische Streben“ gehen werde, um etwas, das irgendwie typisch deutsch wäre; und wenn er sich dann an die Lektüre macht, wird er geneigt sein, derlei auch im Text wiederzufinden, wie immer er solche Vorstellungen bewerten mag, nachdem er sie sich bewußt gemacht und kritisch durchdacht hat.

      Wer einen Zugang zur Literatur der ­Goethezeit finden, ihr gegenüber einen eigenen Standpunkt, eine eigene Sicht der Dinge entwickeln will, der kommt deshalb nicht umhin, mit ihr zugleich ihre Rezeptions- und Interpretationsgeschichte ins Auge fassen und sich Rechenschaft von dem Klassik-Mythos und den diversen Klassiker-Kulten, dem ­Goethe-, Schiller-, Novalis-, Hölderlin-, Kleist-Kult zu geben, sich eben mit all dem auseinanderzusetzen, was an Erinnerungskultur zwischen ihm und den Texten steht. Das gilt zumal für den, der einen wissenschaftlich vertretbaren Zugang sucht. Wenn auch in dieser Einführung der Begriff der ­Goethezeit und die Daten 1770 und 1830 als Epochengrenzen aufgegriffen werden, so sollen damit zunächst und vor allem die Voraussetzungen für eine solche

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      kritische Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte geschaffen werden.

      So soll denn die Frage nach der Eigenart und den Grundlagen von Klassik-Mythos und Klassiker-Kult hier am Anfang stehen, als eine Art methodisches Sich-die-Augen-Reiben, das einen freieren Blick auf die Epoche und ihre Texte ermöglichen soll, einen Blick, der nicht immer schon mit dem ideologischen Beiwerk verklebt wäre, das ihnen im kulturellen Gedächtnis anhaftet. Wie ein Restaurator den ­Firnis von alten Gemälden entfernt, um die ursprüngliche Farbgebung wieder sichtbar zu machen, soll die Rezeptions- und Auslegungsgeschichte der ­Goethezeit von dem getrennt und abgehoben werden, was in ihren Texten niedergelegt ist. Das bedeutet freilich, daß diese Einführung gleich mit einem nicht ganz einfachen Kapitel beginnt. Denn methodische Fragen, Fragen des Zugangs zum Gegenstand, der angemessenen Zugangsweise sind nun einmal besonders anspruchsvoll und aufwendig. Doch nur wer es mit ihnen aufnimmt, vermag in eine Auseinandersetzung einzutreten, die allenfalls wissenschaftlich heißen kann.

      Die Geburt der Neugermanistik aus dem Klassik-Mythos

      Wer immer einen Weg zur Literatur der ­Goethezeit sucht, ist mit ihrem Klassik-Nimbus konfrontiert und tut gut daran, sich darauf einzustellen, ganz besonders aber der Germanist und Literaturwissenschaftler. Für ihn geht es dabei nicht nur um einen angemessenen Zugang zu den Werken einer bestimmten Epoche, sondern darüber hinaus geradezu um sein Fach als ganzes, um das Selbstverständnis des Fachs. Denn die Neugermanistik, die Wissenschaft von der Neueren Deutschen Literatur, ist als eine eigene, besondere Disziplin der akademischen Wissenschaft unmittelbar aus dem Klassik-Mythos hervorgegangen. Der Klassik-Mythos war ihr Schöpfungsbefehl, bezeichnet „das Gesetz, nach dem sie angetreten“, und das hat bis heute Folgen für ihre Arbeit.

      Nun ist zwar auch die Kritik an der „Klassik-Legende“ schon über hundert Jahre alt, und sie hat sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geradezu einen festen Platz im geistigen Haushalt der

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      Literaturgeschichte im Dienst des Nationalismus

      Genauer betrachtet, ist diese Neugermanistik in zwei Schritten entstanden. Ein erster Schritt wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts getan, wo die ersten großen „Geschichten der deutschen National­literatur“ entstanden. Die bekannteste und einflußreichste von ihnen stammt aus der Feder von Georg Gottfried Gervinus und ist in 5 Bänden von 1835 bis 1842 erschienen. Literaturgeschichtliche Arbeiten hat es natürlich auch vor dem 19. Jahrhundert schon gegeben, aber keine, die sich ausschließlich der Darstellung der deutschen Literatur widmeten, die ausschließlich Geschichte einer deutschen „Nationalliteratur“ sein wollten. Derlei hat vorher schon allein deshalb nicht interessieren können, weil die Literatur der Antike, die Werke der alten Griechen und Römer, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als eine unentbehrliche Grundlage des literarischen Lebens galten. Über sie wollte man zunächst und vor allem informiert sein, wenn man sich mit Literatur befaßte.

      Außerdem empfanden sich die Literaten und die meisten von denen, die sich mit Literatur beschäftigten, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis hin zu ­Goethe und seinem Kreis, als Kosmopoliten, als „Weltbürger“, also als Menschen, denen die deutsche Literatur nicht unbedingt näher und wichtiger wäre als die große Literatur der alten Griechen und Römer und der modernen Italiener, Engländer, Franzosen und Spanier, als Homer und Vergil, Dante und Petrarca, Shakespeare, Cervantes und Rousseau. Dieses literarische Weltbürgertum war hinterfangen von der aufklärerischen Vorstellung vom „Allgemein-Menschlichen“, von dem Glauben an die natürliche Gleichheit aller Menschen. In der Literatur wollte der literarische Weltbürger vor allem dem Allgemein-Menschlichen begegnen.

      Das hat sich gerade in der Zeit zwischen 1770 und 1830 geändert. Die aufklärerische Vorstellung vom Allgemein-Menschlichen, von der allgemeinen Menschennatur wurde hier mehr und mehr vom Nationalismus, vom Gedanken der Nation als Dominante des kulturellen Lebens überlagert, wenn nicht vollends beiseite gedrängt. Man verstand sich nun nicht mehr in erster Linie als aufgeklärter Weltbürger, sondern als guter Deutscher, so wie jenseits der Grenzen als guter Franzose, als guter Engländer.

      Moderner Nationalismus und Französische Revolution

      Der moderne Nationalismus, wie er unter anderem das Konzept der Nationalliteratur hervorbrachte, erlebte seinen Durchbruch in

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