Hilmar Sack

Geschichte im politischen Raum


Скачать книгу

(Marquard 1986, 105) kompensierten.

      Infobox

      UNESCO-WeltkulturerbeUNESCO-Weltkulturerbe

      1972 verabschiedete die Generalkonferenz der UNESCO in Paris die „Internationale Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“. Stätten von „außergewöhnlichem universellen Wert“ stehen seitdem unter der Obhut der gesamten Menschheit. Die Unterzeichner (die Bundesrepublik trat 1976 bei) verpflichten sich dazu, diese ausgewählten Orte im eigenen Land zu pflegen und für die Nachwelt zu erhalten. In Deutschland sind heute 41 Natur- und Kulturdenkmale (Stand: Herbst 2016) auf der Welterbeliste der UNESCO verzeichnet. Das Spannungsverhältnis von moderner Stadtentwicklung und Schutz des Welterbes zeigten in der jüngeren Vergangenheit die heftigen Debatten um die Bebauung am Kölner DomKölner Dom und um die Waldschlösschenbrücke im Dresdner Elbtal.

      Mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn der Vergangenheit verband sich ein gewachsenes Bewusstsein für die Geschichte als Politikum. Wer sich politisch auf Vergangenes bezieht, strebt in der Regel nach Sinnstiftung, ihm geht es um Identität, um Bindungen und Loyalitäten – und immer auch darum, politisches Handeln zu begründen und zu legitimieren. Erinnern sei ein politisches Auseinandersetzungsfeld par excellence, vielleicht das wichtigste, sagt der Sozialpsychologe Harald WelzerWelzer, Harald, es ginge darum, wer die richtige Erinnerung definiere. Dieser Kampf werde eher schärfer, Erinnerung sei nicht auf dem Rückzug, sondern auf dem Vormarsch: „Erinnerung gilt als Wert an sich, und sie wird immer mehr zur Obsession“ (Feddersen/Reinecke 2005).

      Halten wir also fest: In Zeiten des Wandels gewinnt das historische Bewusstsein als eine kulturelle Fähigkeit immens an Bedeutung. Erinnern avancierte seit den 1970er Jahren in Deutschland, und nicht nur hier, zum „neuen kategorischen Imperativ“, hat sich überall als eine „kulturelle, soziale und politische Wirklichkeit ersten Ranges durchgesetzt“ (François 2009, 23, 36). Und angesichts einer Welt im rasanten globalen Wandel ist ein Ende des ‚Erinnerungsbooms‘ nicht absehbar – vielmehr öffnen sich vielfältige Berufsperspektiven für angehende Historiker, die Freude am öffentlichen Diskurs haben und sich daran aktiv beteiligen wollen. Zu den wichtigsten Akteuren – und potentiellen Arbeitgebern – gehören der Staat mit seiner offiziellen Gedenkpolitik genauso wie die Medien und zahlreiche Initiativen und Projekte der Zivilgesellschaft – und natürlich die Wissenschaft. Mag letztere in der öffentlichen Debatte zwar in die Defensive gedrängt sein, so liefert sie ihr dennoch die grundlegenden Theorien und notwendigen Stichworte. Sie stellen ein unerlässliches Basiswissen für jeden angehenden ‚Erinnerungsarbeiter‘ dar. Um sie geht es in den folgenden Kapiteln.

      Weiterführende Literatur

      Cornelißen 2003: Christoph Cornelißen, Was heißt ErinnerungskulturErinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54, 2003, 548–563.

      Frevert 2003: Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 40–41, 2003, 6–13.

      Zeitschrift für Politikwissenschaft 25. Jg. 4 (2015), Schwerpunkt: Wie wirkungsmächtig ist Geschichte in der Politik?, 559–591.

      SchmidSchmid, Harald 2008: Harald Schmid, Kommodes Gedenken: die ErinnerungskulturErinnerungskultur des vereinten Deutschlands. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 53, H. 11, 2008, 91–102.

      WinklerWinkler, Heinrich August 2004a: Heinrich August Winkler, Aus der Geschichte lernen? Zum Verhältnis von Historie und Politik in Deutschland nach 1945. In: Die Zeit, 25.3.2004.

      WolfrumWolfrum, Edgar 2010: Edgar Wolfrum, ErinnerungskulturErinnerungskultur und GeschichtspolitikGeschichtspolitik als Forschungsfelder. Konzepte – Methoden – Themen. In: Jan Scheunemann (Hg.), Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland (Leipzig 2010) 13–47.

      2.2 Dreiklang der geschichtswissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Kollektives, kommunikatives und kulturelles GedächtnisGedächtniskulturelles

      Seit den 1970er Jahren vollzog sich ein Richtungswechsel im Forschungsinteresse vieler Historiker. Ihr Augenmerk ruhte nicht mehr allein auf der Geschichte, wie sie sich vollzogen hat, sondern zugleich darauf, wie sie rezipiert und interpretiert wurde. Dadurch wurde ‚das GedächtnisGedächtnis‘ zum zentralen Gegenstand eines eigenen Forschungsschwerpunkts innerhalb der Geschichtswissenschaft. Diese Perspektivverschiebung führte zu einer Vielzahl von Theorien und Konzepten, die sich oft wechselseitig aufeinander beziehen. Mit stets neuen Begriffen bestellt die Wissenschaft ihr noch immer junges Forschungsfeld (siehe z.B. Frei 1996; König/Kohlstruck/Wöll 1998; Kohlstruck 2004; Reichel 1995; Wolfrum 1996). Der souveräne Umgang mit ihnen ist für den Historiker, der sich beruflich auf das weite Feld der ErinnerungskulturErinnerungskultur begibt, unabdingbar.

      Infobox

      Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Vergangenheitspolitik

      Die Reflexion über den Umgang mit der Vergangenheit hat eine eigene (Begriffs-)Geschichte, von der Edgar Wolfrum (2013, 37) sagt, sie sei die „reine Kakofonie“. Bis heute prägend ist der Ausdruck Geschichtsbewusstsein, den die Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren einführte und seitdem theoretisch füllte (siehe Jeismann 1988). Schnell fand dieser Begriff auch umgangssprachlich Gebrauch. Geschichtsbewusstsein als die individuelle „Vorstellung von und Einstellung zur Vergangenheit“ (Jeismann 1977, 12f.) verleiht Gegenwart und Zukunft Sinnhaftigkeit und schafft Orientierung. Geschichtsbewusstsein umfasst nach Hans-Jürgen Pandel mehrere Dimensionen, vor allem ein Zeitbewusstsein, d.h. die Erkenntnis und Deutung der miteinander verwobenen Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Außerdem baut es darauf, zwischen Realität und Fiktion unterscheiden sowie Kontinuität und Wandel erkennen zu können. Hinzu kommen gesellschaftlich-soziale Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, die auf Identitäten, Machtstrukturen, soziale Ungleichheiten und Moralvorstellungen verweisen (Pandel 1993).

      Während beim Geschichtsbewusstsein das Individuum und sein subjektiver Umgang mit der Zeiterfahrung in den Blick genommen werden, bezieht sich Geschichtskultur auf die „Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte umgeht“ (Pandel 2009, 86). Geschichtskultur, die vor allem Jörn Rüsen und Bernd Schönemann theoretisch ausdifferenziert haben, wirkt weit über die Geschichtsdidaktik hinaus, ist aber ein Begriff der Wissenschaft geblieben (siehe Rüsen 1994; Schönemann 2006). Deutlich ist die inhaltliche Nähe zur Erinnerungskultur, die sich begrifflich auch im vorwissenschaftlichen Raum, sogar alltagssprachlich durchgesetzt hat. Auch der jüngste Terminus Geschichtspolitik hat längst die Grenzen der Wissenschaft verlassen und wird jenseits des eingegrenzten historischen Theorie- und Forschungsansatzes allgemein für den öffentlichen Umgang mit Geschichte benutzt. Gelegentlich wird als Synonym von Vergangenheitspolitik gesprochen. Das ist insofern begrifflich ungenau, als der Historiker Norbert Frei diesen Begriff 1996 nur für den zeitlich und thematisch begrenzten rechtlichen und materiellen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Frühphase der Bundesrepublik prägte (Frei 1996). Daran anknüpfend widmen sich inzwischen weitere Forschungen der Aufarbeitung von Diktatur und Gewalt in der Übergangsphase zur Demokratie in anderen Ländern (siehe Vergangenheitspolitik 2006; Oettler 2004).

      „Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen“, postulierte im Jahr 2000 Reinhart KoselleckKoselleck, Reinhart (1923–2006). Er plädierte für ein Vetorecht persönlicher Erfahrungen gegenüber jeder Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv: „So wie es immer überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der je eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen – nationale natürlich – möglicher Erinnerungen“ (Koselleck 2000, 20). Koselleck fand dafür das anschauliche Bild von Schleusen, die die persönlichen Erfahrungen filtern, damit sich klar unterscheidbare Erinnerungen festsetzen können. Die moderne Gedächtnisforschung fasst die Vergangenheit als eine kulturelle Schöpfung auf, die erst dadurch entsteht, dass man sich auf sie bezieht. Bereits 1925 betonte der Soziologe Maurice HalbwachsHalbwachs, Maurice (1877–1945) die sozialen Bezugsrahmen, ohne die sich kein individuelles