Manuel Schramm

Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945


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wurde wie beispielsweise in Großbritannien. Leider blieb das die Ausnahme, und zu den unerwünschten, aber kaum zu vermeidenden Begleiterscheinungen der Rationierung gehörten alternative Beschaffungsformen, legale, halblegale und illegale: der Schwarzmarkt, Hamsterfahrten, Paketsendungen, Horten, Tauschgeschäfte und anderes mehr.

      Oberflächlich betrachtet glichen sich die „Rationen-Gesellschaften“ weitgehend. Überall musste man Schlange stehen, überall kam es zu mehr oder weniger spontanen Protesten, überall unternahm man Hamsterfahrten oder handelte auf dem Schwarzmarkt. Die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit unterschieden sich in dieser Hinsicht kaum von denen des Ersten oder Zweiten Weltkrieges. Der Teufel steckte jedoch im Detail.

      Schon die Ausgangslage war sehr unterschiedlich. Die Länder, die unter deutsche Besatzung geraten waren, wurden vom NS-Regime nach rassischen Kriterien, aber auch nach dem Grad des Widerstands, den sie geleistet hatten, sehr unterschiedlich behandelt. Grundsätzlich waren die Rationen in den osteuropäischen Gebieten niedriger als in den westeuropäischen, aber auch Westeuropa wurde zugunsten des Großdeutschen Reiches ausgeplündert. Während Dänemark großzügig versorgt wurde und die Rationen hier teilweise höher waren als in Deutschland (ca. 2000 Kalorien pro Kopf und Tag), waren die Rationen in Italien ähnlich niedrig wie in Polen und reichten mit ca. 1000 Kalorien pro Kopf und Tag 1942/43 als Normalration kaum zum Überleben. Nicht viel besser war die Lage in Frankreich von 1942 an mit ca. 1100 Kalorien pro Kopf und Tag. Die Niederlande erlebten einen katastrophalen Hunger-winter 1944/45, ähnlich wie Griechenland bereits 1941/42. In Deutschland wurde die Versorgungslage erst gegen Ende des Krieges angespannt, als aufgrund des Vorrückens der Alliierten die Ausplünderung der besetzten Gebiete nicht mehr möglich war. Trotz der unterschiedlichen Höhe war das Rationierungssystem im Prinzip überall gleich. Die Einteilung der Bevölkerung erfolgte zum einen nach Alter, wobei Erwachsene die so genannte „Normalration“ erhielten, und zum anderen nach der Art der verrichteten Arbeit. So gab es Zulagen für Industriearbeiter, die zwischen 15 und 50 Prozent der Normalration lagen (1944), und für Schwerarbeiter, die zwischen 20 und 100 Prozent der Normalration variierten. Dieses System spiegelte die enorme Bedeutung der Industriearbeit für die Besatzungsmacht wider, da sie die Fortführung des Krieges gegen die überlegenen Alliierten ermöglichte.

      Da die Ausplünderung der besetzten Länder kaum geheim gehalten werden konnte, erhofften sich viele Menschen von der Befreiung durch die Alliierten eine schlagartige Verbesserung der Lage. Umso größer war die Enttäuschung, als dies nicht geschah. Zunächst waren die alliierten Streitkräfte auf zivile Verwaltungsaufgaben nur schlecht vorbereitet. Hinzu kam, dass das Ausmaß der Versorgungskrise beispielsweise in Italien die vorrückenden Truppen stark überraschte. So verbesserte sich die Versorgungslage nur langsam und die Rationierung wurde, wenn auch von Land zu Land unterschiedlich, noch jahrelang beibehalten. Teilweise verschlechterte sich die Lage sogar. In Frankreich wurden die Brotrationen nach Kriegsende von 350 g pro Tag und Person erst auf 300 g und dann auf auf 250 g gesenkt. In Großbritannien wurde Brot erst 1946, also ein Jahr nach Kriegsende, rationiert, und war erst 1948 wieder frei verfügbar. Auch in Deutschland wurden die Brotrationen im Frühjahr 1946 gekürzt. Hier war das „Hungerjahr“ 1947 die wohl schwierigste Zeit dieser Periode, beispielsweise in Köln, wo die Rationen im April 1947 so stark gekürzt wurden, dass ihr Nährwert von ca. 1100 Kalorien für den Normalverbraucher auf 900 (und zeitweise noch darunter) fiel.

      Die Rationierungssysteme unterschieden sich teilweise deutlich voneinander. Das nationalsozialistische System der Kriegswirtschaft sah nach Lebensaltern gestaffelte Rationen mit Zulagen für besondere Gruppen vor. In den meisten Ländern, so auch in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, wurde dieses System beibehalten, wenn auch mit Modifikationen. Die größte Gruppe bildeten die erwachsenen Normalverbraucher, Zulagen wurden für Schwer- und Schwerstarbeiter gewährt, für stillende und werdende Mütter, für Kranke, Alte, Schwerbeschädigte, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge. Völlig anders war die Rationierung in der sowjetischen Besatzungszone geregelt, wo (bis 1947) sechs Gruppen unterschieden wurden, die jeweils eigene Lebensmittelkarten erhielten: Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter, Angestellte, Kinder und Sonstige. Berüchtigt waren vor allem die Hungerrationen für die Kategorie der „Sonstigen“, in die Hausfrauen, ehemalige Nazis, Rentner und nicht arbeitende Besitzer von Betrieben eingruppiert wurden: Ihre Lebensmittelkarte wurde im Volksmund als „Friedhofskarte“ bezeichnet. Dagegen war die Intelligenz, die meist bei den Arbeitern eingruppiert wurde, sogar zunächst besser gestellt als in den westlichen Besatzungszonen. Ein wiederum ganz anderes Rationierungssystem herrschte in Großbritannien vor. Dort verzichtete die Regierung auf eine Differenzierung der Bevölkerung (ausgenommen Kinder unter sechs Jahren) und jeder erhielt dieselbe Ration (mit wenigen Ausnahmen für Schwangere, stillende Mütter und bestimmte Gruppen von Arbeitern). Erst im Oktober 1946 wurde eine zusätzliche Fleischration für Bergarbeiter eingeführt. Das Prinzip der Flatrate-Rationen war deswegen unproblematisch, weil ohnehin nur ein Teil der Lebensmittel rationiert war (v.a. Zucker, Butter, Schinken, Fleisch, zeitweise auch Brot), die Konsumenten also auf frei verfügbare Waren ausweichen konnten.

      Das Rationierungsregime herrschte von Land zu Land unterschiedlich lange. Zudem umfasste es häufig nur einen Teil der Güter des täglichen Bedarfs. Dennoch ist es hilfreich, sich vor Augen zu halten, wie lange die Bevölkerung in manchen Ländern mit Einschränkungen der einen oder anderen Art leben musste. In der noch jungen Bundesrepublik Deutschland beispielsweise wurde das bevorstehende Ende der Rationierung Anfang 1950 in der Presse als Ende einer über dreizehnjährigen Periode der Einschränkungen und Entbehrungen gefeiert. Tatsächlich waren es fast vierzehneinhalb Jahre, da schon im Herbst 1935 Kundenlisten für Butter und Schmalz eingeführt worden waren. Das Ende der Rationierung kam hier mit dem 1. April 1950, als die Rationierung für Zucker aufgehoben wurde.

      Auch andere Länder hatten lange Perioden der Einschränkungen hinter sich, als die Rationierung schrittweise seit Ende der vierziger Jahre aufgehoben wurde. Zwar dauerte es in Westeuropa nirgendwo so lange wie in der DDR, wo das definitive Ende erst 1958 kam und kurz darauf sogar wieder Kundenlisten für Butter eingeführt werden mussten. Doch auch in Westeuropa zog sich die Periode der Rationierung in einzelnen Ländern bis in die fünfziger Jahre hinein, so in den Niederlanden bis Januar 1952 (für Kaffee) oder in Großbritannien bis Juli 1954 (für Fleisch, Schinken, Speck). Selbst in Italien, wo die Rationierung bereits 1948 endete, hatte die Bevölkerung bereits seit 1937 (mit der Einführung des dunklen „Einheitsbrotes“) unter Einschränkungen leiden müssen. Die Zeit der Rationierung war nicht nur eine Episode, sondern dauerte ein gutes Jahrzehnt und bildete somit ein prägendes Erlebnis für viele Menschen, die sie miterleben mussten.

      Da die Rationen in den meisten Ländern nicht ausreichten, sahen sich große Teile der Bevölkerung, vor allem in den Städten, gezwungen, nach alternativen legalen, halblegalen oder illegalen Mitteln der Nahrungs- und Brennstoffbeschaffung zu suchen. Dazu gehörten Schlangestehen, Hamsterfahrten auf das Land, Pakete von Verwandten oder Bekannten und nicht zuletzt der Schwarzmarkt. Welches dieser Mittel effektiver war, unterschied sich von Fall zu Fall. Der Anteil der Nahrungsmittel, die über das offizielle Rationierungssystem zu erhalten waren, variierte von Land zu Land und über die Zeit erheblich. In Rom verschwanden im Juli 1944 ca. drei Viertel der Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt. In Großbritannien entfielen 1947/48 ca. die Hälfte der Ausgaben auf rationierte Nahrungsmittel. Und in Frankreich konnten 1945 zwei Drittel der nichtbäuerlichen Bevölkerung nur zwischen 50 und 75 Prozent ihrer Nahrungsmittelbedürfnisse über das Rationierungssystem abdecken. Besonders schwierig war die Lage in Paris, wo die Einwohner im Januar 1945 für 53 von 62 Mahlzeiten auf den Schwarzmarkt angewiesen waren. Wie auch immer man es berechnet: Der Schwarzmarkt oder andere Beschaffungskanäle mussten einen großen Beitrag zur Versorgung leisten, sonst drohte der Hunger.

      Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Nahrungsmittelbeschaffung bei vielen Menschen eine derart wichtige Stellung einnahm, dass an andere Dinge kaum zu denken war. „Nicht Parteien oder Gewerkschaften bestimmen unser Leben“, schrieb die Kölnische Rundschau im August 1947, „nicht die junge demokratische Regierung oder die Besatzungsmacht, sondern einfach der Hunger, nichts als der Hunger“.1 Ihm zu entkommen, war in den