Gedanke, dass wir im Erkennen keine ‚reine Schau‘ der Welt betreiben, zieht sich durch Habermas’ gesamtes Denken. Seinen ersten deutlichen Ausdruck fand er schon in der Frankfurter Antrittsvorlesung von 1965, die unter dem Titel ‚Erkenntnis und Interesse‘ 1968 in ‚Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘‘ erschien und dann in das größere Werk ‚Erkenntnis und Interesse‘ aufgenommen wurde. Hier wird implizit der Anschluss an die erwähnte Schule der ‚Kritischen Theorie‘ sehr deutlich. Habermas orientiert sich dabei zunächst an einer bestimmten Interpretation des griechischen Begriffes der ‚theoria‘, der in sich ambivalent war: Einerseits konnte die neuere Wissenschaft an dessen Bedeutung einer ‚reinen Schau‘ der Welt anschließen, andererseits gelang dies jedoch nur, indem der praktische Bezug der griechisch verstandenen ‚theoria‘ ausgeschlossen wurde. Dort nämlich bezog sich der Begriff [<<19] der ‚theoria‘ auf einen „Bildungsvorgang“, aus dem das Leben seine „Form“ nehmen konnte und sollte (TW 147).1
Erst in der weiteren Entwicklung entstand der ‚Schein‘ einer von der Praxis gelösten und insofern tatsächlich ‚reinen‘ Theorie, wie wir sie heute noch kennen und als ‚Erkenntnis‘ von der Praxis unterscheiden, auch wenn die Letztere im Zuge der intensiven Technisierung heute immer mehr auf die Erstere zurückgreift – einerseits nimmt der Einsatz von Wissen in Lebensbereichen zu, die immer schon erkenntnisorientiert waren, andererseits werden heute wissenschaftliche Erkenntnisse auch auf Gebieten verwendet, auf denen früher traditionales und Erfahrungswissen aus der Praxis ausreichte. Gegen jenen Schein bringt Habermas nun drei verschiedene Erkenntnisinteressen zur Geltung, die er drei verschiedenen Wissenschaftsbereichen zuordnet:
„In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein, das schon den traditionellen Theorien uneingestanden … zugrunde lag.“ (TW 155)
Dass den empirischen Wissenschaften ein technisches Erkenntnisinteresse innewohnt, weil sie sich an technischer Verwertbarkeit und Verfügung über die Natur orientieren, ist ein Gedanke, der bereits bei Descartes deutlich war und schließlich bei Heidegger ausführlich ausgearbeitet wurde. Habermas’ eigenes Denken und seine Konzentration auf ‚kommunikatives Handeln‘ – also Handeln auf der Grundlage der Verständigung zwischen Menschen – wirft jedoch bereits einen deutlichen Schatten voraus, wenn er das Erkenntnisinteresse der historisch-hermeneutischen Wissenschaften als die „Erhaltung und … Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Verständigung“ bestimmt, d. h., in ihnen geht es letztlich um den „möglichen Konsensus von Handelnden“ (TW 158).
Der Anschluss an die Tradition der ‚Kritischen Theorie‘ wird jedoch an dieser Stelle noch stärker durch die Bestimmung eines dritten Erkenntnisinteresses hergestellt, das eine dritte Gruppe von Wissenschaften prägt, die nicht in die übliche Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften passt, nämlich die ‚kritischen Sozialwissenschaften‘, [<<20] worunter vor allem Ideologiekritik, Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaften zu verstehen sind, aber auch die Philosophie im Habermas’schen Verständnis. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie theoretische Aussagen über Gesetzmäßigkeiten des sozialen Handelns so untersuchen, dass Veränderungsmöglichkeiten von Macht und Abhängigkeit im sozialen Zusammenhang deutlich werden können.
Erkenntnis und Interesse verhalten sich also zueinander auf eine komplexe Weise. Zunächst sind wissenschaftliche Erkenntnisse einerseits von partikularen Interessen frei bzw. sie verdanken sich geradezu einem Abstrahieren von solchen Interessen. Nichtsdestoweniger geht es in ihnen um die „fundamentalen Interessen“, denen die Wissenschaft gerade „die Bedingungen möglicher Objektivität“ verdankt (TW 160). Bei dem Ausdruck ‚Bedingungen möglicher Objektivität‘ wird jeder, der die Anfangsgründe des kantischen Denkens kennt, sofort an die ‚Transzendentale Analytik‘ der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ denken. Dort war als zentraler Zusammenhang für die Begründung der Kategorien als gegenstandskonstituierender ‚reiner (d. h. nichtempirischer) Begriffe‘ der Gedanke eingeführt worden, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gleichzeitig die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Unsere Erfahrung ist so strukturiert wie die Gegenstände, die in dieser Erfahrung zur Geltung kommen können, weshalb die Strukturen unserer Erfahrung als apriorische Erkenntnisse über alles gelten können, was unserer Erfahrung in der Form von Objekten zugänglich werden kann.
Für Kant war dies ein Gedanke, mit dem allein er die Möglichkeit apriorisch-synthetischer Erkenntnisse begründbar ansah, also einer solchen Erkenntnis, die nicht einfach auf der Analyse von Begriffen beruht, sondern die unsere Erkenntnisse erweitert und nicht nur näher auseinanderlegt, was wir sowieso schon wissen, die aber andererseits nicht selbst auf der Erfahrung beruht, welche selbst erst mithilfe solcher Strukturen möglich wird. Für Habermas erscheint diese ‚Transzendentalität‘ des erfahrenden Subjekts nun jedoch nicht als ein Gedanke, der sich daraus rechtfertigt, dass wir nur so sichere und gewisse Erkenntnisse gewinnen können. So etwas wie ein transzendentales Subjekt ist vielmehr selbst ein Ergebnis der Geschichte der Menschheit – man könnte auch sagen: der Geschichte ihrer Interessen, d. h., die „Leistungen“ dieses Subjekts für die Konstitution von Objekten und gleichzeitig für die Erfahrung haben selbst „ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung.“ (TW 161) Daraus wird schon deutlich, dass die Voraussetzungen und Bedingungen von Erkenntnis nicht unabhängig von den Interessen gedacht werden können, die diesen Prozess und diese Geschichte bestimmt haben.
Es muss aber gleich hinzugefügt werden, dass ‚Naturgeschichte‘ hier keineswegs heißt, dass unsere biologische Ausstattung sich im Prozess der Evolution so entwickelt [<<21] hat, dass sie nun zu solchen transzendentalen Erkenntnisleistungen fähig ist. Biologistisch sollte man Habermas’ These an dieser Stelle also nicht auffassen. Der „kulturelle[] Bruch mit Natur“ (TW 161) ist vielmehr für Habermas dann schon vollzogen, wenn die ‚Menschengattung‘ sich durch transzendentale Leistungen und damit über die Veränderung der Voraussetzungen und Bedingungen von möglicher Erkenntnis entwickelt.
Anders gesagt: Diese Leistungen entstehen auf der Grundlage der Vergesellschaftung der menschlichen Gattung, d. h., sie sind Produkte des Zusammenlebens von Menschen in Gesellschaften und damit in einer auf Kommunikation beruhenden Kooperation. An dieser Stelle können wir noch etwas weiter auf die Grundlinien der Habermas’schen Theorie des kommunikativen – also verständigungsorientierten – Handelns vorgreifen, denn damit ist bereits die Fortführung jenes Gedankens in eine ethische Dimension angelegt. Die Interessen, die in diesem Prozess der Vergesellschaftung und der Ausbildung der transzendentalen Leistungen des Subjekts beteiligt sind, sind – weil im Prozess kommunikativen Handelns entstehend – orientiert an dem, „was eine Gesellschaft als ihr gutes Leben intendiert“. (TW 162)
Wenn bei Habermas von Interessen die Rede ist, die unsere Erkenntnis bestimmen, dann geht es also nicht um die biologische Ausstattung des Menschen. Das hat schon damit zu tun, dass Interessen sprachlich artikuliert sein müssen, wenn sie in Erkenntnisprozesse leitend eingehen können sollen. Die sprachliche Artikulation aber geschieht in den Formen, in denen Menschen sich vergesellschaften, also in einem „Medium“, das Habermas durch „Arbeit, Sprache und Herrschaft“ charakterisiert (TW 163). Arbeit geschieht auf soziokulturellem Entwicklungsniveau als ein kooperativer Prozess und ist deshalb verständigungsorientiert.
Grundsätzlich gilt dies aber auch für Herrschaft im Unterschied zu Macht bzw. Gewalt. Herrschaft ist regulierte Macht, d. h., sie ist abhängig von Regeln dessen, was man tun und lassen soll, und kann deshalb weiter reichen als bloße Macht oder gar Gewalt. Gewalt kann sich immer nur in einem konkreten Fall durchsetzen; Macht dagegen kann man als die verallgemeinerte Form von Gewalt auffassen, d. h., der Machtunterworfene kann sicher sein, dass sein Verstoß gegen die Vorschriften der Macht durch Gewalt sanktioniert wird. Sobald aber von Herrschaft die Rede ist, werden die Abhängigkeitsverhältnisse komplizierter. Nun werden soziale Institutionen bedeutsam und damit Regeln, die kommuniziert werden müssen, m. a. W.: Herrschaft ist von Begründung abhängig, auch wenn man an solche Begründungen in der