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Sozialraumorientierung 4.0


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Hinte und Roland Fürst beleuchten danach die Widersprüche, die insbesondere durch Finanzierungsstränge entstehen, die die allseits gewünschte Kooperation zumindest erschweren.

      Im dritten Kapitel geht es um konkrete Projekte und Prozesse in verschiedenen Organisationen und Gebietskörperschaften. Die Entwicklung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg von der Sonderwelt ins Quartier beschreiben Hanne Stiefvater, Karen Haubenreisser und Armin Oertel. Ingrid Krammer und Michael Terler reflektieren den Aufbau kooperativer Strukturen in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe. Der Familien Support Bern West ist eine Organisation, in der seit vielen Jahren mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung flexible Unterstützungsprozesse für Kinder, Jugendliche und Familien gestaltet werden: Wie das konkret aussieht, beschreiben Christa Quick und Matthias Kormann. Walerich Berger erzählt im darauffolgenden Interview, wie sich der Paradigmenwechsel in Richtung Sozialraumorientierung für verschiedene Ebenen eines Unternehmens auswirkt, das Leistungen für Menschen mit Behinderungen in der Steiermark anbietet. Der Zusammenhang zwischen einem auf dem Budgetgedanken beruhenden Finanzierungsmodell und der Unterstützung sozialarbeiterischer Fachlichkeit wird von Thomas Wittmann aus der Stadt Rosenheim dargestellt, und wie sich Grenzen zwischen einzelnen Leistungssäulen mehr und mehr auflösen, wenn man mit sozialräumlichem Blick der Dynamik von Familiensystemen folgt, geht aus dem Beitrag von André Chavanne aus Langenthal in der Schweiz hervor. Im Kanton Bern kooperieren einige Sozialdienste auf der Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung mit der Organisation SORA, um mit sozialräumlichem Blick passgenaue Maßnahmen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu entwickeln: Margrit Lienhart und Alexander Kobel präsentieren die Erfahrungen bei der Entwicklung dieses Kooperationszusammenhangs. Die Diakonie de La Tour in Kärnten realisiert in mehreren Leistungsfeldern konsequent die fachlichen Implikationen sozialräumlichen Arbeitens: Wie das gelingen kann, beschreiben Hannes Schindler, Bettina Oschgan, Elisabeth Pilch, Matthias Liebenwein und Martin Baumann am Beispiel der Quartierarbeit und der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Für die Kinder- und Jugendhilfe der Freien und Hansestadt Hamburg ist Sozialraumorientierung eine zentrale fachliche Grundlage: Wie sich die Realisierung in einem partizipativen Prozess im Jugendamt Wandsbek gestaltet, berichtet Birgit Stephan.

      Die Beiträge im vierten Kapitel beschäftigen sich mit Forschungsbefunden und daraus abgeleiteten Perspektiven. Michael Noack fasst Forschungsergebnisse zusammen, die sich auf die fünf Prinzipien des Fachkonzepts beziehen, Roland Fürst nennt Leitlinien für das Verfassen von Berichten, Gutachten und Dokumentationen in der sozialräumlichen Arbeit, und Stefan Bestmann rundet den Band mit Hinweisen auf Baustellen, Entwicklungsnotwendigkeiten und Perspektiven sozialräumlicher Arbeit ab, die auch als Bruchstücke auf dem Weg zu einer Theorie Sozialer Arbeit verstanden werden können.

      Insgesamt baut das vorliegende Buch mit neuen Originalbeiträgen und weiterführenden inhaltlichen Perspektiven auf die im ersten Buch gelegten Grundlagen auf und antwortet damit sowohl auf aktuelle Fragen aus Praxis und Theorie Sozialer Arbeit als auch auf in den Diskursen über Sozialraumorientierung aufgeworfene Fragestellungen.

      Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren, die sich die Zeit genommen haben, neben den zahlreichen Herausforderungen in ihrem Arbeitsalltag die vorliegenden Beiträge zu verfassen und sich mit den nicht immer einfach zu realisierenden Korrekturwünschen der Herausgeber auseinanderzusetzen. Geduld, Übersicht und hervorragende Beherrschung der Technik sind wesentliche Qualitäten, die Andrea Schmelzer auf sich vereinigt und damit einen erheblichen Anteil dazu beigetragen hat, dass das Buch in dieser Fassung vorliegt. Sowohl ihr als auch Susanne Fürst für das abschließende Korrekturlesen gebührt unser großer Dank.

       Wolfgang Hinte/Roland Fürst

      Essen und Wien im Mai 2020

      1.Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung?

      Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Soziale Arbeit, vom Fall zum Feld: Was einst an mit diesen Schlagworten umschriebenen Suchbewegungen initiiert wurde, ist mittlerweile zu einem konzeptionell fundierten und in der Praxis weit verbreiteten Strang Sozialer Arbeit geworden, dessen Bedeutung weit über die anfänglichen Ursprünge (Arbeit im Quartier, Dezentralisierung Sozialer Dienste, Lebensweltbezug in der Kinder- und Jugendhilfe) hinausreicht und zu einem sämtliche Felder Sozialer Arbeit durchziehenden Fachkonzept geworden ist. Dieses prägt – mehr oder weniger – nicht nur die praktische Arbeit der Berufsgruppe, sondern dient auch als Grundlage für zahlreiche Prozesse der Neuorganisation (insbesondere seit den 1980er Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe und seit den 1990er Jahren auch in der Behindertenhilfe). Dass die Motive der in diesen Feldern agierenden Akteure/innen vielfältig und gelegentlich widersprüchlich sind, liegt auf der Hand: Sozialraumorientierung ist längst eine wehrlose Konzeptvokabel geworden, die – nicht immer im Sinne ihrer Begründer/innen – für zahlreiche Merkwürdigkeiten herhalten muss, die nicht mehr allzu viel mit den ursprünglich entwickelten und immer wieder formulierten und beschriebenen (s. dazu Hinte/Treeß 2014; Noack 2015) Prinzipien zu tun haben, sondern oft auch einer bunten Mischung aus gedanklicher Bequemlichkeit, akademischen Eitelkeiten oder lokalen Handlungszwängen entspringen. In dieser Gemengelage ist es durchaus herausfordernd, konzeptionell Kurs zu halten und dem Publikationsallerlei ein konsistentes Gebilde aus fachlicher Konzeption und Hinweisen für hilfreiche Bedingungen im Aufbau einer Organisation und flexiblen Finanzierungsstrukturen zur Seite zu stellen (um nicht zu sagen: entgegenzusetzen), das theoretisch wie praktisch Orientierung bietet, aber selbstverständlich auch zu Kritik und Weiterentwicklung anregt.

      Zum Fachkonzept Sozialraumorientierung lässt sich unter historischen, systematischen, methodischen und strukturellen Aspekten kaum noch etwas substantiell Neues sagen – die Prinzipien wurden vielfach rauf und runter erklärt, in ihren Verästelungen beschrieben, in ihren Auswirkungen beforscht und mit Beispielen aus zahlreichen Arbeitsfeldern illustriert. Seit den 2000er Jahren geht es im Grunde darum, dieses Konzept in der Praxis so zu erden, dass es in seinen Umsetzungsmöglichkeiten ausgelotet wird und durch entsprechende Veränderungen in Struktur und Finanzierung Unterstützung findet. Dazu liegt mittlerweile eine Vielzahl von Erfahrungen vor, die indes noch nicht systematisch und in einer Art und Weise dokumentiert wurden, die konkret genug ist, um weiteren interessierten Akteur/innen in den Gebietskörperschaften präzise Informationen darüber zu geben, welche Chancen und Risiken in solchen Prozessen liegen bzw. welche To-dos und Not-To-dos zu beachten sind.

      Kern des Fachkonzepts sind die hinlänglich bekannten fünf Prinzipien, die auf den ersten Blick in ihrer Schlichtheit ungemein selbstverständlich wirken, deren Qualität und „Sprengkraft“ sich indes erst bei genauerem Hinsehen erschließen.1

      –So scheint auf den ersten Blick der Hinweis auf den „Ansatz am Willen“ trivial. Doch wenn klar ist, dass es einen Unterschied zwischen Wunsch und Wille gibt, dass ein Wille eine andere Kategorie ist als ein Bedürfnis oder der Bedarf, dass die aus einem Willen abgeleiteten Ziele sich wie „rote Fäden“ durch ein Arbeitsbündnis ziehen – dann wird z. B. klar, dass ein versäultes Hilfesystem, durch das der Wille eines Menschen immer wieder schon durch das System verformt und zurechtgeruckelt wird, einem solchen Ansatz zuwiderläuft. In klassischen Systemen werden Wille und Ziele der leistungsberechtigten Menschen den jeweils vorhandenen, historisch entwickelten und auf der Grundlage von Leistungs- und Entgeltvereinbarungen finanzierten Hilfen angepasst – in einem konsequent dem Fachkonzept folgenden System müsste sich ein Hilfesystem jeweils passgenau den speziellen individuellen Willen und Zielen der Menschen anschmiegen und sich – nur leicht übertrieben gesagt – bei jedem „Fall“ neu justieren.

      –Wenn die eigene Aktivität des betroffenen Menschen Kern eines professionellen Arbeitsbündnisses ist, dann hat das Konsequenzen für die Aufstellung solcher Institutionen, in denen Betreuung und Kundenzufriedenheit entscheidende Parameter für „Erfolg“ sind. Denn dort werden oft die Rechte und die Eigenaktivität des Menschen gleichsam erschlagen (Pestalozzi soll gesagt haben: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch