Thomas Müller J.J.

Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen


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nur eine Versorgung und Beschulung von sogenannten sittlich verwilderten Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein Verbot des seiner Meinung nach unnützen Spiels und den Einsatz der Prügelstrafe. Francke steht stellvertretend für andere religiös motivierte Pädagogen und Anstaltsgründungen im 17. Jahrhundert, die gesinnungsethisch geprägt waren. Erst mit einem stärker medizinischen Interesse im 19. Jahrhundert und beflügelt vom Geist der Aufklärung sowie der Überzeugung, dass der Mensch unabhängig von Behinderung bildbar sei (Herbart 1835), wendet sich das Blatt und Kinder und Jugendlichen werden

      „nun nicht mehr in moralischen Kategorien als ‚böse‘ und ‚sittlich verwildert‘ betrachtet […], sondern als ‚krank‘ und ‚schlecht erzogen‘ […]. Die im 19. Jahrhundert verbreitete Zuversicht, die Medizin könne jede Form von ‚Idiotie‘ und ‚Geisteskrankheit‘ heilen, wird im 20. Jahrhundert zunehmend abgelöst durch einen pädagogischen Optimismus, der sich auf der Idee gründete, kein Kind zurückzulassen, sondern alle Kinder ungeachtet ihrer persönlichen Befähigung optimal fördern zu können, sodass sie eine höhere Stufe der Entwicklung erreichen könnten“ (Willmann 2018, 51).

      Gesinnungsethisches Denken wandelte sich nach und nach in eine verantwortungsethische Praxis, die auf die Resultate des Handelns und ihre Verantwortbarkeit zielt. Für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen können beispielhaft Johannes Trüper und die 1890 gegründete Sophienhöhe bei Jena oder Johann Hinrich Wichern und das 1833 gegründete „Rauhe Haus“ in Hamburg genannt werden.

      Mit Aufkommen der Psychoanalyse im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem gesteigerten Interesse am inneren Erleben des Menschen entsteht die Einsicht, dass sich hinter dem offensichtlichen Verhalten von Menschen innere Notwendigkeiten, ein subjektiver Sinn verbergen kann. Diese Anerkennung eröffnete, geprägt durch August Aichhorn, pädagogisch einen anderen Blick auf kindliches Verhalten und Erleben, eine neue Dimension der pädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Bedeutsame Gründungen, die von diesem Geist geprägt sind, gehen auf Fritz Redl (Pioneer House) sowie auf Bruno Bettelheim (Orthogenic School) zurück.

      Fragen zum Verständnis:

      Was ist mit Gesinnungsethik gemeint?

      Was trug dazu bei, dass gesinnungsethisches Handeln durch eine verantwortungsethische Praxis ersetzt werden konnte?

      Welche Bedeutung hat die Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen?

      Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:

      Comenius forderte bereits im 17. Jahrhundert für die Schule, „alle alles zu lehren“. Was bedeutet dies mit Blick auf die Diskussion um Inklusion; und was lässt sich daraus lernen, dass dieser Gedanke über die Jahrhunderte immer wieder verloren ging?

      Wodurch lässt sich der für die Sonderpädagogik so wesentliche pädagogische Optimismus angesichts bisweilen aussichtslos erscheinender Situationen mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen rechtfertigen?

      Bruno Bettelheim prägte als psychoanalytischer Pädagoge den Ausspruch „Liebe allein genügt nicht!“. Was ist damit gemeint?

      

Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.

      

Grundlagenliteratur:

      Göppel, R. (1989): „Der Friederich, der Friederich …“. Das Bild des erziehungsschwierigen Kindes im 19. und 20. Jahrhundert. Edition Bentheim, Würzburg

      Der gesellschaftliche, aber auch der „pädagogische“ Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen war in der Vergangenheit immer wieder von Ablehnung, Ausschluss und Vernichtung geprägt. „Die Geschichte der gesellschaftlichen Konstruktion des ‚Anders-Seins‘ führt von der Dämonologisierung und Moralisierung in der Frühzeit und im Mittelalter bis zur Biologisierung und Pathologisierung in der Neuzeit […]“ (Willmann 2018, 51).

      In der jüngeren deutschen Geschichte sind insbesondere der Umgang der Nationalsozialisten, aber auch der des DDR-Regimes mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen eindrückliche Negativbeispiele (s. thematische Skizze 2).

      Die Nationalsozialisten bestimmten den Wert von Menschen mit Behinderung bezogen auf Rasse und gesellschaftlichen Nutzen, wobei vor allem die Arbeitsfähigkeit zählte. Der aus diesen Kriterien bestimmte „volkswirtschaftliche Wert“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 245) entschied über Leben und Tod. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche bezeichnete man als Asoziale, als arbeitsscheu, schmarotzerisch und aufrührerisch. Sie galten als pädagogisch nicht beeinflussbar und hatten einen besonders geringen Status in der Gesellschaft des Dritten Reichs (Müller 2014). Man sagte ihnen nach, einen schlechten Charakter zu besitzen und äußerst raffiniert vorzugehen (Ellger-Rüttgardt 2019), unterstellte ihnen also Vorsatz. In den Schulen war kein Platz für solche Kinder und Jugendliche, wozu auch diejenigen zählten, die gegen den Nationalsozialismus aufbegehrten, sich der Hitlerjugend entzogen oder als eigensinnig galten. Nur dem Arbeitsdienst wurde eine positive Wirkung auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche zugeschrieben (Müller 2014). Gleichzeitig sah das NS-Regime in diesen Kindern und Jugendlichen besonderes Potenzial, sie für den Führerkult zu begeistern. Der gesamte Propagandaapparat war auf die Formung und Gestaltung des „Volkskörpers“ ausgerichtet – „die unbedingte Unterordnung des Individuums unter den absoluten Vorrang der Volksgemeinschaft“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 243). Mit dem „richtigen rassischen Wert“ und potenziellen Nutzen für das Volk, wurde die Hitlerjugend als Besserungsanreiz in Aussicht gestellt. Dort konnten verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ihren volkswirtschaftlichen Wert unter Beweis stellen, ihre Behinderung auszugleichen versuchen und dem Vaterland dienen.

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      Thematische Skizze 2: Sicht auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus und in der DDR

      „Jugendliche, die als sozial auffällig und sittlich verwahrlost galten, wurden ab 1940 […] Jugendschutzlagern […] zugeführt und zur Zwangsarbeit verpflichtet. In den 1970er Jahren wurden diese Lager in Westdeutschland als Konzentrationslager anerkannt“ (Müller 2014, 224).

      Letztendlich sah die NS-Sozialpolitik in verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen keinen Nutzen. Vielmehr galten sie als Gefahr für die „arische Rasse“ und wurden als „Minderwertige“, als „Parasiten am deutschen Volkskörper“ diskreditiert (Baringhorst / Böhnke 2017). Weder begegnete man ihnen mit Verständnis, noch wurde ihnen Unterstützung zuteil, dafür jedoch Verachtung, Demütigung und Hass. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging der Wiederaufbau des Sonderschulwesens nur schleppend voran. Die wenigen verbliebenen Hilfsschulen waren aufgrund der negativen Bewertung behinderter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in katastrophalem Zustand.

      Erziehung und Bildung wurden in der DDR maßgeblich durch den Einfluss des ukrainischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko geprägt. Dieser galt als der einflussreichste Pädagoge der Sowjetunion. Das Leitziel seiner Bemühungen war, „den neuen Menschen zu schaffen“ (Zimmermann 2004, 52). Anfang der 1920er Jahre leitete Makarenko Arbeitskolonien, in denen „verwahrloste“ Kinder Disziplin lernen und resozialisiert werden sollten. Ein Verständnis von Erziehung als wechselseitigem Prozess und gegenseitiger Abhängigkeit fehlte bei Makarenkos Überlegungen. Auch Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnisse der zu Erziehenden wurden nicht berücksichtigt. Vielmehr sollte ein klares Machtgefälle zwischen Erzieher und Zögling vorherrschen.

      Die DDR übernahm Makarenkos pädagogische Lehren, verfälschte sie aber auch. Die Erziehung so genannter verhaltensabweichender Kinder und Jugendlicher fand in der DDR in Form von „Umerziehung“