Stefan Silber

Postkoloniale Theologien


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bestätigen, dass die Verehrung Unserer Lieben Frau von Guadalupe [in Mexiko] die koloniale Ordnung unterbricht und die Dogmen und die Politik der katholischen Kirche übertritt. Dabei bricht die Verehrung Unserer Lieben Frau von Guadalupe mit den auferlegten kolonialen Werten wie Macht, Rasse, Sprache und untergräbt die katholische Lehre und verlässt die Kontrolle des materiellen Raums der Kirche.“8

      Zwar nicht in der liturgischen Sprache, wohl aber in der Festpraxis wird die Gestalt der Guadalupe wie eine Göttin – insbesondere als Verkörperung der altmexikanischen Gottheit Tonantzin – behandelt9. In dieser Praxis werden koloniale Muster durchbrochen. Gleichzeitig werden auch andere gesellschaftliche und kulturelle Werte durch das Fest übertreten. Die Prozession mit der Heiligenfigur und das anschließende Fest, die beide außerhalb des ummauerten kirchlichen Raums stattfinden, interpretiert LaportaLaporta, Héctor als ein Verlassen der kolonialen Ordnung und einen Bruch mit dieser. Selbst der exzessive Alkoholkonsum und die sexuelle Permissivität, die auf diesen Festen erlebt werden können, gelten ihm als Anzeichen eines Bruchs der kolonialen Gesellschaftsordnung, motiviert und unterstützt durch die Wiederaneignung der Göttin: „Maria springt von der offiziellen Bühne und nimmt aktiv an der fiesta teil, in der die Musik, das Trinken, Essen und Flirten ein wichtiger Teil der Feiern sind.“10

      Kritisch anzumerken ist jedoch, dass Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika häufig auch unmittelbare Folge des massiven Alkoholkonsums nicht zuletzt auf diesen Festen ist. Eine allzu unkritische Bewertung dieser Feiern als Bruch mit der kolonialen Ordnung verbietet sich daher. Dennoch zeigt das Beispiel, wie eine postkoloniale Auseinandersetzung mit religiösen Institutionen und Vorgängen zu einem entscheidenden theologischen Perspektivwechsel beitragen kann.

      Diese wenigen Beispiele zu kolonialen und postkolonialen Geschlechterbeziehungen und Strategien ihrer Überwindung können nicht in das komplexe Feld postkolonialer feministischer Theologien oder Studien einführen11. Sie verweisen vorerst nur auf die grundlegende Bedeutung feministischer Kritik im Postkolonialismus. In den folgenden Abschnitten und Kapiteln werden noch mehr Beispiele aus feministischen Perspektiven beschrieben, die weitere wichtige Aspekte zu diesem transversalen Thema beitragen werden12.

      2.7 Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte?

      Ein mächtiges Instrument kolonialer Diskursprägung war und ist die Geschichtsschreibung. Gegen den Neutralitätsanspruch historischer Wissenschaftsdisziplinen kritisiert die postkoloniale Theorie, dass die Autorinnen und Autoren der Geschichtsschreibung ihre eigene Sicht der Dinge bevorzugen und damit auch für künftige Leserinnen und Leser festschreiben.

      Der US-amerikanische Religionswissenschaftler Randall StyersStyers, Randall beleuchtet die Bedeutung postkolonialer Theorien für das Studium der Kirchengeschichte. Dazu zitiert er den tunesisch-französischen Soziologen Albert MemmiMemmi, Albert,

      „dass ‚der schwerste Schlag, den die Kolonisierten erleiden, darin besteht, aus der Geschichte entfernt zu werden‘. Kolonisatoren haben in der Tat außerordentliche Macht ausgeübt, um zu Was als Geschichte giltdefinieren, was als Geschichte gilt, wer als Subjekt gilt und was als Wissen gilt.“1

      Die südasiatische Subaltern Studies Group, die als eine der Gründungsinitiativen der postkolonialen Studien gilt, widmete sich insbesondere dieser Problematik in der Geschichtsschreibung: Wer sind Autorinnen und Autoren, welche AkteurInnen werden genannt und welche verschwiegen? Wie werden sie und ihre Praxis charakterisiert? Vor allem Dipesh ChakrabartyChakrabarty, Dipesh kritisiert die historiografische Praxis, die Geschichte außereuropäischer Regionen immer mit Bezug und im Vergleich zu Europa zu untersuchen, während europäische Geschichtsschreibung durchaus ohne Bezugnahme auf den Rest der Welt geleistet werden könne2. Durch diese Kritiken entsteht zugleich auch eine „Geschichtsschreibung von unten“3, in der auch subalterne AkteurInnen selbst zu Wort kommen sollen, etwa mittels Interviews.

      Die Kirchenhistorikerin Elizabeth A. ClarkClark, Elizabeth aus den USA stellt ähnliche Fragen wie die Subaltern Studies Group, um ein Forum einzuleiten, das sich postkolonialen Anfragen an die kirchengeschichtliche Wissenschaft stellen soll:

      „Wer ist berechtigt, sich an dieser Theoriebildung zu beteiligen? Wessen Stimmen bleiben erhalten? Können Menschen aus dem Westen ‚authentisch‘ die Perspektive derer vertreten, die von westlichen Kulturen unterdrückt wurden? Hängt die Ausbildung einer christlichen Identität nicht wie jede Identitätskonstruktion davon ab, ein ‚anderes‘ als Negativfolie einzurichten, in diesem Fall die NichtchristInnen, die KetzerInnen, die Apostaten? Sind politische und wirtschaftliche ‚materielle‘ Interessen in die akademische Diskussion über ‚Repräsentation‘, Literatur und Textualität eingewoben? Ist dabei die Geschichte der Kolonisierten verloren gegangen?“4

      Die indigene Wissenschaftlerin Linda Tuhiwai SmithSmith, Linda Tuhiwai aus Neuseeland hinterfragt darüber hinaus aus feministischer Perspektive den europäischen Begriff der Geschichte selbst: „Geschichte (history) ist die Erzählung (story) einer spezifischen Herrschaftsform, nämlich des Patriarchats, wörtlich ‚his-story‘“5. Für den indigenen Kampf um die Entkolonisierung ist es daher nicht selbstverständlich, sich dafür einzusetzen, dass indigene AutorInnen sich an der Produktion westlicher Geschichtsschreibung beteiligen wollen. Vielmehr stellt SmithSmith, Linda Tuhiwai wesentliche Grundlagen des westlichen Geschichtsverständnis in Frage. Um die eigene Geschichte erzählen zu können, müssten vielmehr auch Indigene Praktiken der Erinnerung und der Erzählungindigene Praktiken der Erinnerung und der Erzählung, insbesondere Narrativität, Pluralität und alternative Rationalitäten zugelassen und wertgeschätzt werden. Geschichtsschreibung wird so auch zu einer Arena der Auseinandersetzung um die Vergangenheit und die Ungerechtigkeiten, die aus ihre ererbt wurden. Unter dieser Voraussetzung „bleibt die Notwendigkeit, unsere Geschichten (stories) zu erzählen, ein machtvoller Imperativ einer machtvollen Widerstandsform“6.

      Auch lateinamerikanische TheologInnen und HistorikerInnen beklagen, dass die Geschichte der Missionen und der Kolonien in der Regel von EuropäerInnen und mit europäischer Methodologie geschrieben wurde und wird. Die Geschichte der Unterworfenen wird auf diese Weise unsichtbar gemacht.

      Enrique DusselDussel, Enrique kritisiert bereits 1978 die europäische Historiografie der Eroberung Amerikas als „aristokratische Geschichte“:

      „Man schrieb ein bestimmtes Christentum und ließ ein anderes auf der Seite liegen. […] Außerdem wurde die Geschichte fast immer aus der Perspektive einer Elitenkultur geschrieben, die selbst kulturell abhängig ist. Wir wurden in Universitäten, in Seminaren, in Europa oder unter europäischem Einfluss ausgebildet, und das gab uns eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit. Auch wenn wir nun eine ‚wissenschaftliche‘ Beschreibung liefern (und das wird hier vorausgesetzt), ist dies eine höchst fehlerhafte Interpretation.“7

      Der mexikanische Theologe Alejandro Castillo MorgaCastillo Morga, Alejandro verweist in diesem Zusammenhang darauf, wie seit der Eroberung Lateinamerikas indigenes Wissen, Selbstverständnis und Geschichtsbewusstsein immer wieder delegitimiert, umgedeutet und zerstört wurde8. Dieses Verständnis der eigenen Geschichte der UreinwohnerInnen Amerikas „kommt in ihrer Art und Weise zu sein, in ihren Lebensweisen, ihrer Weltsicht, Mythen, Bräuchen und Gewohnheiten und selbstverständlich ihrem Wort zum Ausdruck.“9

      Angesichts der Eroberung, Kolonisierung und Mission erfuhr dieses Selbstverständnis teilweise eine Zerstörung und teilweise eine Umdeutung gemäß den herrschenden Interessen. CastilloCastillo Morga, Alejandro zeigt nun aber auch, wie die indigene Weisheit Strategien des Widerstands durch WeisheitStrategien des Widerstands entwickelt hat, durch die es möglich war, das eigene historische Bewusstsein wenigstens in transformierter Form zu bewahren und weiterzugeben. Mit einem Begriff aus der Nahuatl-Sprache, der im mexikanischen dekolonialen Diskurs viel verwendet wird, nennt Castillo diese Strategie nepantla, das als „sich dazwischen stellen“ übersetzt werden kann und einen Zwischenraum eröffnet, in dem ↗ Hybridität und Mestizität möglich werden10.

      In diesem Zwischenraum ist es möglich, innerhalb des kolonialen Rahmens mit den Mitteln der Kolonie und der eigenen Tradition gemeinsam Widerstand zu leisten. Die geschichtliche Erinnerung, die hier geformt wird, schöpft aus beiden Traditionen, nutzt aber die Sprache und Begrifflichkeiten des Eroberers