Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur Band 4


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Realismus und „Weltfrömmigkeit“

       4.1 Humanität und Vitalismus bei Keller

       4.2 Kellers „Das verlorene Lachen“

       4.2.1 Aufbau und Handlung

       4.2.2 Individuum und Gesellschaft

       4.3 Realismus

       4.3.1 Desillusionierung

       4.3.2 Humor

       4.3.3 Sinnlichkeit

       4.3.4 Beschreibung

       4.4 „Augenfest“ und „Weltfrömmigkeit“

       5 Literatur und Nationalismus

       5.1 Das Bild der Nationalbewegung bei Immermann

       5.1.1 „Die Epigonen“

       5.1.2 „Münchhausen“

       5.2 Heine als Kritiker des Nationalismus

       5.3 Die Vorstellungswelt des Nationalismus

       5.3.1 Adam Müller

       5.3.2 Johann Gottlieb Fichte

       5.3.3 Ernst Moritz Arndt

       5.3.4 Friedrich Ludwig Jahn

       5.3.5 Joseph Görres

       5.4 Lyrik der Befreiungskriege

       6 Realismus der Gründerjahre

       6.1 Die Gründerjahre im Licht des „Kommunistischen Manifests“

       6.2 „Pfisters Mühle“ von Raabe

       6.3 Die Frage nach der Zukunft von Poesie und Humanität

       Anhang

       Siglen

       Literaturhinweise

       Personenregister

       Rückumschlag

      1 Einleitung

      1.1 Das 19. Jahrhundert in der Literaturgeschichte

      „Langes“ oder „kurzes Jahrhundert“?

      Wo beginnt das Jahrhundert? Mit der französischen Revolution, mit Napoleon oder mit dem Wiener Kongreß? Mit der Demokratie, dem Militärdespotismus oder der Diplomatie? (GS 2, 69)

      So fragte man bereits im 19. Jahrhundert, fragte etwa schon Karl Gutzkow, einer der umtriebigsten und bestinformierten Autoren der ersten Jahrhunderthälfte, in seinen „Zeitdiagnosen“ von 1837. Wenn der Literarhistoriker heute vom 19. Jahrhundert spricht, dann denkt er dabei im allgemeinen noch nicht an die Zeit der Französischen Revolution von 1789 oder an die Ära des „Militärdespoten“ Napoleon – die Zeit von 1799 bis 1815 – und noch nicht einmal an die Jahre im Umfeld des Wiener Kongresses von 1814/15, mit dem die Epoche der Französischen Revolution und des Revolutionskaisers Napoleon an ihr Ende kommt; dies alles wird er noch der „Goethezeit“, der Epoche von Klassik und Romantik zurechnen. Er läßt das 19. Jahrhundert in der Regel erst um 1830, mit dem Ausgang der „Goethezeit“, beginnen, um es bereits um 1890, an der Schwelle zur ästhetischen Moderne, schon wieder enden zu lassen; so hat es sich jedenfalls in der Germanistik eingebürgert.

      Die Literaturgeschichte verfährt hier anders als die politische Geschichte, die das 19. Jahrhundert meist als ein „langes Jahrhundert“ behandelt und von der Französischen Revolution von 1789 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 dauern läßt. Denn die Französische Revolution hat das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigt; an dem, was damals an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf den Weg gebracht worden war, hat es sich unausgesetzt abgearbeitet, einschließlich seiner Literatur. Und diese Auseinandersetzung kam erst mit der deutschen Revolution von 1918 zu einem vorläufigen Ende, [<<7] als Deutschland nach dem Debakel des Ersten Weltkriegs der Monarchie den Garaus machte und sich die Verfassung einer Republik gab, so wie es das revolutionäre Frankreich bereits 1792 getan hatte.

      In der Literaturgeschichte hat sich eine andere Einteilung durchgesetzt. Hier hat es sich als günstig erwiesen, das 19. Jahrhundert als ein „kurzes Jahrhundert“ zu behandeln und sich bei der Frage nach den epochalen Zusammenhängen mit dem Zeitraum von den dreißiger bis zu den achtziger Jahren zu begnügen. Die Literaturgeschichte ist zwar wie die gesamte Kulturgeschichte eng mit der politischen Geschichte verknüpft, doch verlaufen die Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens keineswegs synchron; was sich in ihnen jeweils als Epoche abzeichnet, läßt sich nur selten zur Deckung bringen, im Grunde nie. Denn wie die Menschen leben, was sie denken und tun, was sie an Haltungen und Vorstellungen entwickeln und in ihrer Literatur ausarbeiten und reflektieren, ändert sich nicht mit einem politischen Ereignis, von einem Tag zum andern; solcher Wandel braucht stets einen längeren Atem.

      Um 1830 endet für die Literaturgeschichte die Goethezeit, die Epoche von Spätaufklärung, Klassik und Romantik, und sie endet im Grunde ohne einen äußeren Anhaltspunkt in der politischen Geschichte, ohne Bezug auf ein markantes politisches Datum. Und um 1890 erlebt sie einen weiteren tiefen Einschnitt, wiederum ohne einen solchen Bezugspunkt – und gerade hier ist das Auseinanderklaffen von Ereignisgeschichte und kultureller Entwicklung besonders deutlich – insofern nun mit den Bewegungen des Naturalismus und des Symbolismus, mit Arno Holz und Gerhart Hauptmann, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke etwas durchaus Neues beginnt: die moderne Literatur im engeren und eigentlichen Sinne, die ästhetische Moderne mit ihrem programmatischen Modernismus und ihren immer neuen Avantgarden.

      Vormärz, Realismus, Gründerzeit

      Die Zeit von 1830 bis 1890 wird in der Regel wiederum in zwei Epochen unterteilt,