Wolfgang von Goethe in „Zahme Xenien II“ an die Adresse seiner Zunft richtete. Die Rechtsgeschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, welche schlimmen Interpretationen Rechtsbegriffen untergeschoben wurden und wie grobes Unrecht als Recht „im Namen des Volkes“ verkündet wurde. In der deutschen Rechtsdogmatik der Gegenwart hat die Freirechtsschule deshalb keinen Widerhall mehr, während im Case-Law-Rechtssystem angelsächsischer Prägung der einzelne Richter weitaus größere Interpretationsspielräume besitzt. Andererseits hat man erkannt, dass Rechtsbegriffe nur vermeintlich logisch-deduktiv zu klären sind, Rechtsnormen vielmehr die Aufgabe haben, typische Konflikt- und Interessenlagen zu regeln und deshalb innerhalb der Rechtsordnung einen spezifischen Zweck erfüllen sollen. Die Interessenjurisprudenz heutiger Prägung lehnt deshalb ein reines, die konkreten Folgen ignorierendes Operieren mit Begrifflichkeiten ab, ohne aber auf systematisch-logische Überlegungen völlig zu verzichten. Auch bei der Gesetzesanwendung sind die in der Rechtsnorm offenbar werdenden Interessen und Folgen zu berücksichtigen. Wenn man Recht nicht nur abstrakt versteht, sondern seine soziale Funktion erkennt, wird man dies offenlegen und damit umgehen (lernen) müssen. Um den Einfluss von Willkür so gering wie möglich zu halten und für die Bürger ein Mindestmaß an Rechtssicherheit zu garantieren, ist es von entscheidender Bedeutung, dass bei der Anwendung von Rechtsnormen die grundlegenden Wertentscheidungen der Verfassung, des Grundgesetzes, berücksichtigt werden, hinter die keine Auslegung zurückfallen darf.
Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung sind also keine „exakten“ oder gar „objektiven“ Wissenschaften oder Methoden. Freilich gilt das auch für andere Fachrichtungen, Objektivität ist stets vermeintlich und selbst in der Mathematik und Physik hat man von dieser Vorstellung zugunsten einer subjektiv-konstruktivistischen Betrachtungsweise Abstand genommen. Rechtsdogmatik, die „Kunst“ und Lehre der Anwendung des geltenden Rechts, insb. im Umgang mit den Rechtsbegriffen, muss aber zumindest auf intersubjektiv überprüfbaren Kriterien basieren. Rechtsanwendung benötigt – wie jede andere Fachdisziplin – spezifische „Regeln der Kunst“ und fachliche Standards, Grundsätze für den Umgang mit Rechtsbegriffen und letztlich die entsprechende Fertigkeit, diese anzuwenden. So ist z. B. bei der Auslegung zu beachten, dass sie auch im Rahmen der Fallprüfung abstrakt erfolgen muss, d. h. unabhängig vom jeweiligen Sachverhalt (unabhängig z. B. von den handelnden Personen, auf die die Rechtsnorm angewandt werden soll), da ansonsten der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt werden würde. Das Gebot der Rechtssicherheit erfordert es, dass der Normadressat im Vorfeld weiß, was von ihm erwartet wird. Verhaltensgebote müssen deshalb klar und berechenbar sein. Das Rechtsstaatsgebot verlangt, dass (zumindest rechtsdogmatisch) am Ende nur ein Auslegungsergebnis rechtlich relevant, insofern also nur eines „richtig“ sein kann. Dieser Widerspruch ist letztlich nur durch ein transparentes Kontrollverfahren aufzulösen. Im Rechtsstaat wird deshalb Legitimation vor allem durch das gewählte Verfahren, also durch ein Set von Regeln, wie man zu einem Ergebnis kommt, hergestellt (vgl. Luhmann 2006). Dies gilt für die Genese der Rechtsnormen und die Anwendung der Gesetze ebenso wie für die Rechtskontrolle. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Kontrolle über die richtige Anwendung der Rechtsnormen den Gerichten übertragen. Zwar gibt es auch verwaltungsinterne Kontrollmechanismen (hierzu 5.2.1), letztlich unterliegt aber die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Sozialverwaltung in aller Regel der vollen richterlichen Überprüfung. Hier gibt es – anders als bei manchen Rechtsfolgeentscheidungen („Ermessen“) – grds. keinen Interpretationsspielraum der Exekutive.
Freilich haben auch Richter ihre Vorverständnisse, sie sind zwar institutionellrechtlich unabhängig (Art. 97 Abs. 1 GG), als Menschen allerdings beeinflussbar. Aufgrund unterschiedlicher Vorverständnisse wird der eine eher einer „konservativ-restriktiven“, der andere eher einer „progressiv-weiten“ Auslegung folgen. Das lässt sich weder verhindern noch ist es besonders schlimm, wenn wenigstens das Verfahren transparent ist und einer öffentlichen Kontrolle unterliegt. Dabei spielen nicht nur die Gerichte eine Rolle, sondern auch die wissenschaftliche Diskussion, die sich in der Fachliteratur, in Kommentaren und Aufsätzen und anderen Fachforen artikuliert und die auf die Rechtsprechung Einfluss nimmt.
herrschende Meinung
In dieser oft heftigen Diskussion bilden sich die Meinungen über die Anwendung der Rechtsnormen heraus, es bilden sich Mehrheits- oder „herrschende“ Meinungen (sog. h. M., gelegentlich als „Meinung der Herrschenden“ diskreditiert) und andere Ansichten (a. A.). Von entscheidender Bedeutung ist neben der höchstrichterlichen Rechtsprechung die im Rahmen der Auslegung gelieferte Begründung. Grds. müssen Gerichtsentscheidungen (§ 38 Abs. 3 FamFG, § 313 Abs. 1 Nr. 6 u.Abs. 3 ZPO, § 54 JGG, § 267 StPO, § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) und hoheitliche Entscheidungen der Behörden (§ 35 SGB X) begründet werden. Hierbei sind vor allem die tragenden Argumente schlüssig und nachvollziehbar darzulegen. Ungeachtet aller Hierarchien und Machtungleichgewichte sollte deshalb die Kraft des Wortes, des überzeugend stringenten und „vernünftigen“ Arguments nicht unterschätzt und das Ausdiskutieren, die Debatte strittiger Themen zumindest während des Studiums geübt werden.
3.6 Subsumtion und Stufen der Rechtskonkretisierung
Im Alltag neigt man im Rahmen von Problemlösungen häufig dazu, dem Verlauf der tatsächlichen Geschehnisse folgend chronologisch vorzugehen. Klärungsprozesse in der Sozialen Arbeit beruhen zumeist auf einem zirkulär-prozesshaften Denken. Aus juristischer Sicht hat dies den Nachteil, dass man sich schnell in den Einzelheiten einer Fallgestaltung verliert, sich (häufig zu Recht, aber im Hinblick auf die Fallfrage nicht zielführend) über die Geschehnisse empört und die gestellte Aufgabe, die Lösung der Fallfrage, aus dem Auge verliert. Dieses auf die Fallfrage beschränkte Denken in binären Strukturen (etwas ist gegeben oder nicht gegeben) wird Juristen gelegentlich als Schwarz-Weiß-Denken vorgeworfen, welches die vielfältig grauen oder bunten Schattierungen des Lebens nicht abbilden könne (instruktiv sind die „Empfehlungen für Sozialarbeiter im Umgang mit Strafjuristen“ von Ed Watzke (1997, 79 ff.), die allerdings nur diejenigen gewinnbringend lesen, die auch seine „Empfehlungen für Strafjuristen im Umgang mit Sozialarbeitern“ ertragen). Dieser Vorwurf trifft freilich nur dann zu, wenn die spezifische juristische Arbeitsmethodik verwechselt wird mit der der rechtlichen Bewertung vorausgehenden (eingeschränkten) Wahrnehmung der sozialen und gesellschaftlichen Realitäten. Unterscheiden muss man zudem zwischen Rechtsdogmatik als der Anwendung des geltenden Rechts und Rechtspolitik im Sinne rechtsverändernder Aktivitäten.
Im Unterschied zur sozialpädagogisch-chronologischen Vorgehensweise ist für die juristische Arbeitsmethodik eine systematische Bearbeitung der Fragestellungen kennzeichnend, die nicht von den tatsächlichen Geschehnissen, sondern von den normativen Verhaltensanweisungen, also von Rechtsnormen ausgeht. Die konkrete Anwendung des geltenden Gesetzes auf einen Einzelfall nennt man Subsumtion. Bei diesem Denkvorgang handelt es sich um einen juristischen Syllogismus, der sich in den drei Stufen „Obersatz-Untersatz-Schlussfolgerung“ deduktiv (d. h. vom Allgemeinen zum Besonderen) vollzieht, wobei Ober- und Untersatz durch denselben Mittelbegriff verknüpft sind. Die abstrakt-generelle Regelung, die Rechtsnorm, stellt insoweit den Obersatz dar (z. B. § 212 StGB: „Wer einen anderen Menschen – ohne Rechtfertigung und schuldhaft – tötet, wird als Totschläger bestraft“). Der Untersatz beschreibt den konkreten Einzelfall (z. B. „A ersticht den B, ohne dass er von diesem angegriffen wurde.“). Es werden sodann die Elemente des Sachverhalts mit denen der Rechtsnorm verglichen. Durch die Verknüpfung von Ober- und Untersatz („B ist ein Mensch. Diesen hat der A wissentlich und willentlich (= vorsätzlich) und ohne Notwehr oder eine sonstige Rechtfertigung getötet. Anzeichen, dass A. nicht voll schuldfähig ist, liegen nicht vor.“) kann der Rechtsanwender daraufhin eine Schlussfolgerung ziehen (hier: A hat den B vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft getötet, damit einen Totschlag begangen − also wird A wegen Totschlags bestraft). Unter Subsumtion versteht man also die Prüfung, ob die Tatbestandselemente der abstrakten Rechtsnorm („Obersatz“) durch die einzelnen Umstände des konkreten Lebenssachverhaltes („Untersatz“) erfüllt werden und welche Rechtsfolge infolgedessen gegeben ist („Schlussfolgerung“).
Lange Zeit hat die Jurisprudenz versucht, zu suggerieren, Rechtsdogmatik sei nichts anderes als eine wissenschaftliche Anwendung der Regeln der Logik, deren dreistufiger Aufbau auch im Rahmen der Rechtsanwendung gepflegt wurde. Mit Blick auf die Wenn-dann-Relation von Rechtsnormen und die Verknüpfung von Tatbestandsmerkmalen