Rosita Hoppe

Küsse am Meer


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Blick von ihr zu wenden, ließ er seine Lippen über die Kuchengabel gleiten. Fast so, als wollte er auskosten, dass Pauline sie zuvor mit ihren Lippen berührt hatte. Diese Version überkam jedenfalls Pauline. Einen winzigen Moment noch blickten sie sich an.

      „Alles in Ordnung?“, fragte in dem Moment die junge Frau, die sie bedient hatte. Einen unpassenderen Augenblick hätte sie nicht erwischen können. Pauline fühlte sich unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt. Paul schien ebenso zu denken, denn er warf der Frau einen verärgerten Blick zu. Pauline lehnte sich zurück und konzentrierte sich wieder auf ihren Eisbecher. Zwischenzeitlich hatte ihre Lieblingsspeise eine leicht flüssige Konsistenz angenommen. Aber egal. Es schmeckte trotzdem. Sie schwiegen, während sie aßen, warfen sich nur ab und an verstohlene Blicke zu. Pauline überlegte fieberhaft, was sie Unverfängliches sagen konnte. Doch blöderweise fiel ihr überhaupt nichts ein.

      „Wir müssen noch auf unsere tollen Namen anstoßen.“ Paul holte sie abrupt aus ihren Überlegungen zurück, als er plötzlich mit dem Stuhl zurückrückte und sich erhob.

      „Ich hol uns rasch was.“

      Pauline blickte ihm nach, bis er im Café verschwand. Sie konnte noch immer nicht fassen, was da eben zwischen ihnen passiert war.

      Kurze Zeit später kam er mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. Eines reichte er ihr, bevor er sich setzte. „Das einzig richtige Getränk zum Anstoßen“, sagte er mit einem Lächeln.

      Pauline warf einen Blick auf die aufsteigenden Perlen im Glas. „Nicht, dass ich nachher vom Fahrrad falle.“ Sie blickte auf. Paul hielt ihr sein Glas entgegen. Mit einem leichten Klingen stießen sie an.

      „Auf uns und auf unsere besonderen Vornamen.“ Paul zwinkerte. „Ich heiße Paul – und du?“

      Pauline konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Hallo, Paul, schön, dich kennenzulernen. Ich bin Pauline.“

      „Hallo, Pauline.“ Ehe sich Pauline versah, beugte sich Paul vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich freue mich auch“, murmelte er, lehnte er sich zurück, schlug lässig ein Bein über das andere und nahm einen ersten Schluck aus seinem Glas.

      Das Blut kochte in ihren Adern, so kam es Pauline jedenfalls vor. Das Herz hämmerte, als wollte es aus ihrer Brust springen. Die Gefühle, die Paul gerade in ihr auslöste, verwirrten Pauline. Schließlich kannte sie ihn kaum. Eigentlich gar nicht. Obwohl sie ihn schon von der ersten Begegnung an attraktiv gefunden hatte. Nervös drehte sie das Sektglas in ihrer Hand, nahm einen Schluck und drehte es weiter. Sie spürte Pauls Blick, der auf ihr ruhte und der sie völlig durcheinanderbrachte.

      „Bist du schon länger auf der Insel?“, fragte Paul nach einer Weile. „Von hier scheinst du nicht zu stammen.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Du sprichst reines Hochdeutsch.“

      „Ich besuche eine Freundin und bin zum dritten Mal hier. Ganz besonders mag ich Nebel. Hach, diese Reetdachhäuser sind einfach hinreißend. Der Ort hat ein ganz besonderes Flair. Trotz der Touristen. Ich hab nirgendwo einen schöneren Strand gesehen. Ich liebe diese Unendlichkeit, die der Kniepsand ausstrahlt. Außerdem wandere ich gern über die Bohlenwege durch die Dünen.“

      Paul lachte. „Deine Begeisterung für die Insel kann ich dir an der Nasenspitze ansehen. Du solltest in die Werbung gehen oder dich von der Touristeninformation anstellen lassen.“ Er beugte sich interessiert vor. „Oder bist du in der Werbebranche?“

      „Ähm, nee.“ Stimmte ja auch. Was gewesen ist, zählt nicht mehr.

      „Wie lange wirst du bleiben?“

      Pauline zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Es hängt von gewissen Dingen ab.“ Glücklicherweise fragte Paul nicht weiter. Er trank sein Glas leer und Pauline ebenfalls. Sie seufzte leise. „Ich muss dann auch weiter. Meine Freundin wartet sicher schon. Ich habe versprochen, bald zurück zu sein.“

      „Schade. Ich wäre gern noch ein bisschen länger mit dir hier geblieben.“ Pauls Gesicht drückte Enttäuschung aus.

      „Vielleicht … vielleicht laufen wir uns noch einmal über den Weg. Ich komme bestimmt bald wieder nach Nebel.“ Pauline erhob sich, Paul ebenfalls. „Ich werde hier auf dich warten“, versprach er. „Jeden Tag.“

      Pauline wagte nicht, ihn zu fragen, ob er das ernst meinte. Wenn das Schicksal es wollte, würde es dafür sorgen, dass sie sich wieder über den Weg liefen. Wo auch immer das sein würde. „Vielen Dank für die Einladung, das Eis, den Sekt …“

      „Den Kuss?“

      „Ja. Auch den.“ Meine Güte, war der direkt. Ehe sich Pauline versah, zog Paul sie in seine Arme. Der intensive Blick aus seinen graublauen Augen bescherte ihr eine Gänsehaut. Sie entdeckte ein paar winzige grüne Punkte in seiner Iris. Welch ungewöhnliche Kombination. Schon spürte sie Pauls Lippen auf ihren. Die Berührung war kurz und fest, und viel zu schnell vorüber.

      „Für den danke ich dir“, raunte Paul an ihrem Ohr und ließ sie so plötzlich los, dass sie beinahe ins Schwanken geraten wäre. Er wandte sich von ihr ab und winkte die Bedienung heran. „Zahlen bitte“, rief er. Kurze Zeit später hatte er die Rechnung beglichen.

      „Wo steht dein Fahrrad?“, fragte Paul, als sie auf der Straße standen.

      „Gleich in der Nähe. Also dann. Machs gut, Paul.“

      „Machs gut, Pauline. Wir sehen uns.“ Er zwinkerte ihr zu.

      „Ganz bestimmt.“ Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und schlenderte davon. Pauline blickte ihm nachdenklich hinterher. Würden sie sich noch einmal über den Weg laufen? War sein Versprechen, täglich im Café auf sie zu warten, ernst gemeint? Vermutlich nicht. Sie wusste nichts über ihn, außer dass er eine Schwester hatte, die Liebesromane las. Er hatte ihr nicht einmal erzählt, ob und wie lange er auf Urlaub hier war. Vermutlich würde er ihre Begegnung in die Kategorie „flüchtige Urlaubsbekanntschaft“ stecken. Was war mit ihr? Worunter würde sie dieses kurze, intensive Intermezzo ablegen? Darüber sollte sie besser mit ein bisschen Abstand – vielleicht am Abend im Bett – nachdenken. Inzwischen war Paul nicht mehr zu sehen. Dummerweise war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, wohin er verschwunden war.

      Pauline gab sich einen Ruck und machte sich auf den Weg zum Öömrang Hüs. Die Besichtigung des Hauses ließ sie sausen, ihre Gedanken kreisten immer noch um Paul. Sie schwang sich auf ihren Drahtesel. Für ihren Rückweg nach Norddorf schlug sie einen anderen Weg ein. Erst außerhalb des Ortes bemerkte sie, wo der Weg sie entlangführte. Sie bremste scharf ab, als sie das Areal rechter Hand erkannte, und kam ein wenig ins Schlingern. Rasch stieg sie vom Rad und stellte es an einem Baum ab. Auch wenn sie den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte, gab es für sie nur einen Weg. Nach wenigen Minuten hatte sie die gesuchte Stelle gefunden.

      „Hallo, Jan-Erik.“ Ein einfaches Holzkreuz nur mit dem Namen und ohne Daten zeigte Besuchern, wer hier begraben war. Auf dem Grab blühten die verschiedensten Blumen, die sicher Jule auf liebevolle Weise gepflanzt hatte. Eine Weile blieb sie stehen und dachte an die wenigen Augenblicke, die sie vor Jahren zu dritt verbracht hatten. So richtig hatte sie Jan-Erik damals nicht kennenlernen können, er war viel beschäftigt gewesen. Nun war es zu spät. Im Stillen versprach Pauline, beim nächsten Besuch einen Blumenstrauß mitzubringen. Sie wandte sich ab und eilte zum Ausgang.

      Während sie zurück nach Norddorf radelte, hatte Pauline wieder Pauls Antlitz vor dem inneren Auge. Sein Lächeln, beim Essen der Torte und wie er sich über sie beugte. Plötzlich riss sie das wilde Hupen eines Autos aus ihren Gedanken. Bremsen quietschten. Erschrocken starrte Pauline auf das schwarze Auto, das kurz vor ihr zum Stehen kam. Der Fahrer fuchtelte wild mit den Armen. Mit klopfendem Herzen stieg sie vom Rad. Mannomann, das war knapp gewesen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie, ohne nach rechts und links zu sehen, auf die Hauptstraße gefahren war. Ihre Knie schlotterten, als sie das Rad auf den gegenüberliegenden Bürgersteig schob.

      „Sind Sie lebensmüde?“, rief der Fahrer aus