„Kamen Sie ins Waisenhaus?“, fragte Florian Krautmann.
Sandra schüttelte den Kopf. „Meine Großeltern, die Eltern meines Vaters, nahmen mich zu sich und zogen mich auf.“
„Leben sie noch?“
„Nur meine Großmutter“, antwortete Sandra Falkenberg. „Sie ist vierundsechzig. Großvater ist vor zwei Jahren kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag von uns gegangen. Wir vermissen ihn sehr.“
„Lisa hat mir von einem Lederwarengeschäft erzählt, das Ihnen und Ihrer Großmutter gehört.“
„Man kann damit nicht gerade reich werden, aber am Hungertuch brauchen Oma Anette und ich auch nicht zu knabbern.“ Sandra schenkte Dr. Krautmann mit ihrem „neuen“ Gesicht ein bezauberndes Lächeln. „Wenn Sie mal einen schönen Aktenkoffer oder eine schicke Reisetasche brauchen, kommen Sie zu uns. Sie können mit einem Preisnachlass rechnen, wie Sie ihn sonst nirgendwo bekommen.“
„Ich werde mir Ihr Angebot merken“, nickte Florian Krautmann.
„Es gilt selbstverständlich für Ihre ganze Familie.“
„Sie sind sehr großzügig“, erwiderte der Chefarzt.
„Ich muss mich doch irgendwie für Ihre Hilfe bedanken.“
„Ich habe Ihnen gern geholfen.“ Sandra Falkenberg reichte dem Klinikchef die Hand, und das glückliche Strahlen ihrer braunen Augen wärmte sein Herz. „Auf Wiedersehen, Dr. Krautmann.“ Sie lächelte. „Es muss ja nicht unbedingt wieder in Ihrer Klinik sein.“
„Ich wünsche Ihnen alles Gute“, gab Florian Krautmann zurück, und die schöne Patientin verließ sein Büro. Ihr Gang wirkte so, als würde sie auf Wolken schweben.
Florian hatte mehr für ihre Seele als für ihr Gesicht getan, und es erfüllte ihn mit Freude, sie so glücklich und zufrieden gemacht zu haben.
Zehn Minuten nachdem Sandra Falkenberg sich verabschiedet hatte, klopfte Schwester Annegret an seine Tür. „Chef …“
„Was gibt’s, Annchen?“
Die grauhaarige Pflegerin trat seufzend ein. „Die arme Frau Schmidt …“
„Wie geht es ihr?“, erkundigte sich der Klinikchef.
„Sie hat seit dreißig Stunden Wehen. Die Zäpfchen und die Spritze wirken noch immer nicht. Die Frau ist schon ganz verzweifelt. Sie hängt seit zwei Stunden am Tropf, aber es geht nichts weiter. Das Baby will und will nicht kommen.“
„Was sagt der Wehenschreiber?“, fragte Dr. Krautmann.
„Wir kriegen immer dieselben Werte.“
„Ist das Baby okay?“, wollte Florian Krautmann wissen.
„Ja, mit dem Kind ist alles in Ordnung.“
„Ich sehe mir die Patientin mal an“, entschied der Klinikchef und begab sich mit Schwester Annegret in den Kreißsaal, wo eine junge, zarte blonde Frau sich schon so lange damit abquälte, ihr Baby auf die Welt zu bringen. Er untersuchte Laura Schmidt, die schrecklich leidend aussah. Sie konnte weder sitzen noch in irgendeiner Position liegen, hatte nahezu ständig Schmerzen und war schon fast am Ende ihrer Kräfte.
Der Muttermund war zwar schon offen, aber noch nicht weit genug. Das Baby, ein Mädchen, wie die Ultraschalluntersuchungen ergeben hatten, kam noch nicht durch.
Laura Schmidt sah den Chefarzt verzweifelt an. „Ich habe solche Schmerzen, Herr Doktor.“
„Es ist bald vorbei“, tröstete Florian Krautmann sie.
„Können Sie mir nichts gegen diese furchtbaren Schmerzen geben?“, flehte die werdende Mutter.
„Wenn ich Ihnen etwas gebe, dauert die Gehurt noch länger“, antwortete Dr. Krautmann.
„Ich kann nicht mehr“, schluchzte die Patientin.
„Tut mir leid, Frau Schmidt, aber Sie müssen da durch.“
„Ich halte das nicht mehr aus“, jammerte die junge Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Dr. Krautmann streichelte die schweißfeuchte Hand der Patientin. „Sie werden Ihr Baby noch in dieser Stunde bekommen, dann ist es ausgestanden.“ Er lächelte sie aufmunternd an. „Nur Mut, es wird alles gutgehen. Ich sehe in einer halben Stunde wieder nach Ihnen.“
Als er dreißig Minuten später feststellte, dass der Kopf des Kindes noch immer nicht durch die Öffnung des Muttermundes passte, sah er sich gezwungen, diesen über das Köpfchen des Babys zu schieben. Ihm war klar, dass das äußerst schmerzhaft für die Patientin war, aber nur so ließ die Geburt sich vorantreiben. Laura Schmidt schrie grell auf, und für einen Moment befürchtete Dr. Krautmann, sie würde das Bewusstsein verlieren, aber sie blieb ansprechbar, und von da an nahm die Niederkunft endlich ihren gewünschten Lauf.
Schwester Annegret und zwei Hebammen halfen der jungen Frau, ihr Kind zu gebären, während Dr. Krautmann sich immer wieder um die Herztöne des Babys kümmerte.
Schließlich erblickte das kleine Mädchen das Licht der Welt. Es wurde gewaschen, gemessen, gewogen und fotografiert, und als Dr. Krautmann der jungen Mutter ihr süßes Baby zeigte, schaffte diese trotz der großen Strapazen, die sie ausgestanden hatte, ein glückliches Lächeln.
2. Kapitel
„Siehst du, was ich sehe?“, fragte Julian Krautmann seine Zwillingsschwester Lisa. Sie saßen in dem roten Kleinwagen, den sie gebraucht, aber noch sehr gut erhalten – zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatten, und befanden sich auf dem Heimweg.
„Ja“, antwortete Lisa, „und es gefällt mir irgendwie nicht.“
„Mir auch nicht.“
Sie blickten beide in dieselbe Richtung. Julian hatte an einer Verkehrsampel angehalten, und auf der gegenüberhegenden Seite der Straßenkreuzung warteten ein Motorrollerfahrer und sein Klammeräffchen auf Grün.
„Oliver Wiechert und Dorothee Simonis“, brummte Julian. „Ich weiß jemanden, dem bei diesem Anblick die Galle hochkommen würde.“
„Sandra Falkenberg“, sagte Lisa. „Genau.“
„Ich dachte, Oliver würde Sandra so sehr liehen“, bemerkte Lisa.
Julian zuckte die Schultern. „Vielleicht bringt Oliver die mannstolle Dotty nur irgendwo hin.“
„Ja, und dafür bedankt sie sich dann auf ihre spezielle Weise“, sagte Lisa giftig. „Sieh nur, wie sie sich an ihn schmiegt! Sie genießt es richtig, sich an ihm festzuhalten. So ein Luder! Keine Beziehung ist ihr heilig. Je besser sich zwei verstehen, desto mehr ist ihr das ein Dorn im Auge. Wenn ich einen Freund hätte, und Dotty Simonis würde sich so an ihn ranschmeißen …“
„Was würdest du dann tun?“
„Das Gesicht würde ich diesem Biest zerkratzen.“
Das Lichtsignal wechselte auf Grün, Julian fuhr weiter. Der Motorroller fuhr vorbei, ohne dass Dotty und Oliver die Krautmann-Zwillinge bemerkten.
„Ich sage Sandra nichts davon“, murmelte Julian.
„Ich auch nicht.“
„Aus solchen Dingen hält man sich besser raus“, meinte Julian. „Die Angelegenheit kann ja auch völlig harmlos sein.“
„Von Olivers Seite aus vielleicht, aber ganz bestimmt nicht von Dottys. Sie scheint sich mal wieder selbst beweisen zu müssen, dass sie jeden haben kann, wenn sie will.“
Julian feixte. „Warum versucht sie’s nicht mal bei mir?“
„Du bist nicht interessant für sie.“
„Na,