Matthias Müller

Systemisches Case Management


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in denen hoch anspruchsvolle Individuen zu Hause sind, konfrontiert wird. Von der Sozialarbeit sind daher Konzepte gefragt, die den beschriebenen Wandlungsprozessen Rechnung tragen, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen mitgehen. Solche Konzepte wollen wir in diesem Buch für die Soziale Einzel- und Familienarbeit konstruieren und dazu einladen, diese Konzepte in der Praxis der Sozialen Arbeit auszuprobieren und zu überprüfen oder sie im Studium sowie in der Fort- und Weiterbildung zu diskutieren.

      Wir, also Britta Haye, Andreas Hampe, Matthias Müller und ich, sind bereits seit mehreren Jahren im Gespräch darüber, wie die oben knapp beschriebenen Wandlungen in den Lebenswelten der Menschen und in der Sozialen Arbeit methodisch bewältigt werden können, und zwar so, dass daraus kein Abbau sozialarbeiterischer Standards resultiert. Vielmehr ist es uns ein Anliegen, innovative sozialarbeiterische Handlungsmethoden zu sichten, zu testen und gegebenenfalls so weiterzuentwickeln, dass sie den aktuellen Anforderungen gerecht werden. Ein erstes Ergebnis unserer Arbeitsgruppe, die vor allem ich in enger Kooperation mit Britta Haye an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin koordiniere, ist das vorliegende Buch, in dem wir versuchen, Ansätze zum Case Management mit methodischen Vorstellungen einer systemisch-konstruktivistisch orientierten, einer postmodernen Sozialarbeit (s. dazu Kleve 1999; 2000) zu koppeln. Wir wollen den Leserinnen und Lesern also methodische Ansätze vorstellen, die von einer klassischen zu einer postmodernen Sozialarbeit führen könnten, einer Sozialarbeit, die sich bewusst ist, dass sie nicht mehr so weitermachen kann wie bisher.

      Nach unserem Verständnis ist die Gesellschaft und mit ihr auch die Sozialarbeit spätestens jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine postmoderne Phase eingetreten. Während die moderne Sozialarbeit noch wusste, anhand welcher Normen die vermeintlich abweichenden Klienten in die Gesellschaft reintegriert bzw. für die Gesellschaft normalisiert werden sollten, geht einer postmodernen Sozialarbeit dieses Wissen mehr und mehr verloren. Die Frage ist dann, durch welche Methoden, professionellen Haltungen und theoretischen Orientierungen dieses Nichtwissen kompensiert werden kann – wir meinen: vielleicht durch ein Case Management, das sich vor allem hinsichtlich der Falleinschätzung und Hilfeplanung systemisch-konstruktivistisch orientiert.

      Ein solches Systemisches Case Management geht von vier postmodernen Prämissen aus (vgl. dazu Kleve 2000, S. 59 ff.): Erstens sieht es das Primat von Kommunikation, also die soziale Tatsache, dass es nur realisierbar ist, wenn es Dialoge, Diskurse, Aushandlungen, kurz Gespräche zwischen Menschen initiiert, die die soziale Wirklichkeit allererst konstruieren; zweitens akzeptiert es die zu erwartende Möglichkeit der grundsätzlichen Verschiedenheit (Differenz) zwischen den lebensweltlichen Bezügen bzw. subjektiven wie sozialen Wirklichkeitskonstruktionen der SozialarbeiterInnen und der KlientInnen; drittens reflektiert es die Grenzen des sozialarbeiterischen Handelns und anerkennt die Unmöglichkeit instruktiver Interaktionen (s. dazu weiterführend Kersting 1991), vielmehr öffnet es sich für Kontingenz, für die Möglichkeit, dass alles immer auch anders kommen kann, als es geplant, erdacht oder intendiert war; viertens schließlich eröffnet es ein reflexives Vorgehen, das die SozialarbeiterInnen auffordert, dass sie das, was sie tun, permanent – z. B. mittels Evaluationen oder Supervisionen – verantwortungsbewusst hinterfragen, einschätzen und bewerten und sich neue, alternative Handlungsmöglichkeiten überlegen, wenn die bisherigen nicht zum gewünschten Ziel, der erfolgreichen Hilfe für KlientInnen, führen.

       Thesen des Buches

      Wir haben bereits festgestellt, dass sich die Sozialarbeit nicht mehr problemlos auf eine gegebene moralische Einheit der Gesellschaft beziehen kann, um von dort aus integrierende Normanpassungen ihrer vermeintlich devianten Klienten vorzunehmen. Vielmehr müssen nun, quasi losgelöst von jeder einheitlichen moralisch-gesellschaftlichen Verankerung, in – z. B. durch das Rechtssystem gerahmten – Ver- und Aushandlungsprozessen die Problem-, Reflexions-, Handlungs- und Zielbezüge sozialarbeiterischer Hilfen im Spannungsfeld sozialer (etwa politischer, wirtschaftlicher, familiärer etc.) und individueller Erwartungen immer wieder neu geschaffen, konstruiert werden. Das Soziale muss von der Sozialarbeit alltäglich neu hergestellt werden. Kaum etwas ist noch selbstverständlich. Fast alles ist hinterfragbar geworden, kann immer auch anders beschrieben, erklärt und bewertet werden. Unsere soziale Situation ist so ambi- oder polyvalent, so mehrdeutig wie vielleicht nie zuvor.

      Trotz dieser postmodernen Situation sind wir der Ansicht, dass ein Bezug der Sozialarbeit weiterhin – womöglich sogar radikaler als je zuvor – erhalten bleiben wird und erhalten bleiben muss, nämlich der Klientenbezug.

      Dieser Bezug wird gerne mit der Aussage umschrieben, dass die Klienten dort abgeholt werden müssen, wo sie stehen. Dieser Klientenbezug, der typisch ist für die Sozialarbeit, bildet auch die Basis für die These, die wir den folgenden Texten voranstellen wollen. Diese These lautet, dass es in konkreten Hilfeprozessen die Klienten Sozialer Arbeit selbst (und nicht die Helfer) sind, die am ehesten wissen, was gut für sie ist. Dieser Orientierung fühlen sich die Autorin und die Autoren dieses Buches verpflichtet. Insbesondere um diese Idee in die Praxis umzusetzen, bieten sich unserer Ansicht nach eben die beiden methodischen Richtungen an, die wir in diesem Buch kombinieren: die systemischkonstruktivistische Perspektive und das Case Management.

      Unserer Ansicht nach sind systemisch-konstruktivistische Orientierungen und das Case Management sozialarbeiterische Ansätze, in denen zwei wesentliche Postulate, die aktuelle sozialarbeiterische Ansätze prägen sollten, aufgenommen werden: nämlich einerseits die Lebensweltorientierung und andererseits die Ökonomisierung.

      Im Sinne der Lebensweltorientierung sind die beiden Methoden dialogisch orientiert. Mit Hilfe dieser Methoden können SozialarbeiterInnen zusammen mit den KlientInnen versuchen, in kommunikativen Aushandlungsprozessen Lösungen zu initiieren. Die Klienten werden dabei – ganz im Sinne unserer oben genannten These – als Experten für die Realisierung der Problemlösungen gesehen. Die SozialarbeiterInnen gehen also nicht normativ vor, sondern verstehen sich als Experten für die prozesshafte Konstruktion von Zielen und für das prozesshafte Anregen der Klienten hinsichtlich der Zielerreichung. In diesem Sinne sind die SozialarbeiterInnen Kommunikationsexperten, die das kommunikative, das dialogische Erschließen von Zielen und Lösungen, die in der Lebenswelt der Klienten sinnvoll und sinnhaft sind, anregen, ja ermöglichen.

      Im Sinne der Ökonomisierung sind beide Methoden – mit den oben genannten Einschränkungen bezüglich der Grenzen des sozialarbeiterischen Handelns – an Effektivität und damit fast zwangsläufig an Effizienz orientiert. Sie sind auf Effektivität ausgerichtet, weil sie die Ergebnisse der Hilfe anhand der Ziele messen, die zuvor, d. h. während des Hilfeprozesses, zumeist immer wieder erneut ausgehandelt wurden. Nur wenn Ziele definiert wurden, kann zielwirksam, also effektiv gearbeitet werden, und nur wenn die Ergebnisse mit diesen Zielen verglichen werden, ist es möglich, die erreichte Effektivität zu messen.

      Unabhängig von den konkreten Zielvereinbarungen in jeder Hilfe kann als das grundlegende Ziel jeder Sozialarbeit – im weitesten Sinne – die »Hilfe zur Selbsthilfe« angegeben werden. Mit anderen Worten soll sozialarbeiterische Hilfe bewirken, dass die Klienten in absehbarer Zeit sich wieder selber helfen können oder dass Personen aus dem lebensweltlichen Netzwerk (z. B. Familienangehörige, Nachbarn, Freunde, ehrenamtliche Helfer) unterstützend wirken, sodass die professionelle Hilfe überflüssig wird.

      Um dieses Ziel zu erreichen, ist das »zentrale Hilfeparadoxon« (Wolff 1990, S. 22) zu reflektieren, das darin besteht, dass Hilfe immer auch zur Nicht-Hilfe im negativen Sinne führen kann, das heißt zur Abhängigkeit der Klienten von den Helfern. Beide Methoden – sowohl die systemische Beratung als auch das Case Management – versuchen, gerade diese Abhängigkeit zu verhindern, indem sie die Wahrscheinlichkeit, dass diese Abhängigkeit überhaupt erst entstehen kann, durch einen kritischen Einbezug des Faktors Zeit verringern.

      Hilfen sollen so lange wie nötig, aber so kurz wie möglich dauern. Die These ist, dass Abhängigkeit mit der Verfestigung von Strukturen über einen längeren Zeitraum entsteht. Mit anderen Worten, je länger eine Hilfe dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Klienten von dieser – wie auch immer – abhängig werden; und umso teurer werden die Hilfen dann, was dazu führt, dass Effizienz