Hans-Peter Vogt

Der Clan der Auserwählten


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      Katharina bleibt alleine Zuhause, in Begleitung des Kindermädchens, das nun die Rolle der Ersatzmutter übernimmt und dem Chauffeur, dessen Aufgabe es ist, Einkäufe zu erledigen und das Kind zur Schule, in den Sport, oder zum Reitunterricht zu fahren.

      Nachdem die Eltern abgereist waren, sieht Artemis, dass Kathy wirklich ihren eigenen Kopf hat. Manchmal geht sie zu diesen Reitstunden, manchmal zum Sport, aber nicht immer, dann schwänzt sie diese Stunden. Sie liebt es, mit der U-Bahn zu fahren, und sie hat dort offenbar eine ganze Menge Freunde, die das genauso halten.

      Artemis lernt zum ersten mal eine Gang aus Jugendlichen kennen. Er lernt andere Gangs kennen, und er lernt, dass sich diese Gangs untereinander befehden. Es geht manchmal um einen Ehrenkodex, manchmal um Geld und Macht und Imponiergehabe. Manchmal ist das äußerst rigide, über Erpressung bis hin zur nackten Gewalt. Das Geschehen bedroht ihn nicht, er findet das spannend, und er beobachtet das Geschehen, neutral, wie er sein kann, als ein Studierender.

      Kathy ist in einer Gruppe, zu der mehr als fünfzig Kinder gehören. Sie sprechen von Haus aus unterschiedliche Sprachen, und sie stammen aus unterschiedlichen Ländern, aber sie benutzen untereinander ein Kauderwelsch, das aus mehreren Sprachen zusammengesetzt ist. Es gibt viele Worte, welche nur diese Kinder benutzen. Andere verstehen den Inhalt jedoch nicht. So können sich die Kids untereinander verständigen, und sie zeigen sich damit zugleich, wir alle sind ein Teil desselben Clans. Einige der Kinder leben vom Diebstahl, aber nicht alle.

      Ein Großteil dieser Kinder ist irgendwie nach Deutschland eingewandert. Sie haben ihre Eltern verloren oder verlassen, und sie haben sich zu einer Schutztruppe zusammengeschlossen. Ein Teil der Kinder lebt sogar in den Tunneln der U-Bahn. Sie fühlen sich hier zu Hause, und kennen den Fahrplan in- und auswendig. Sie kennen die Schächte. Sie kennen die Signale. Sie wissen, wann sie Schutz suchen müssen, wenn einer dieser Züge auf sie zurollt, ja, sie haben sogar eine eigene Schule gegründet, weil sie keine Papiere haben, die ihnen den Besuch einer regulären Schule erlauben, die von den Menschen geführt wird, die da oberhalb der U-Bahnröhren leben.

      Dank seines Gespürs findet Artemis bald heraus, dass es solche, oder ähnliche Gruppen auch in Paris, London, New York und anderen Städten gibt, aber die Gruppen haben grenzübergreifend keinen Kontakt. Sie agieren nur lokal und regional, völlig unabhängig voneinander.

      Katharina ist eines dieser Bandenmitglieder, die den Kontakt nach Aussen herstellen, und welche die Gruppe immer wieder mit Informationen und Geld versorgen. Sie ist eine sehr geschickte Diebin, und wird von der Bande bevorzugt für heikle Aufgaben eingesetzt, wo es um viel Geld und ein hohes Risiko geht. Artemis staunt. Dieses kleine Mädchen hat ein Doppelleben. Zu Hause mimt sie die brave und fleißige Tochter, aber tatsächlich liebt sie den Nervenkitzel. Sie ist dabei so geschickt, dass sie noch nie erwischt wurde.

      Die Gruppe wird von zwei weißen Jugendlichen geführt. Der eine wird Robert gerufen, oder kurz Roy. Er ist ein wahres Multitalent und ein hervorragender Organisator. Auch er hat Witz und die Fähigkeit, viele anstehende Probleme über Lachen und Späße zu lösen. Er ist für die Kids, wie ein Ersatzvater. Manchmal milde, manchmal sehr energisch und bestimmt. Der andere wird Spek genannt. Er heißt eigentlich Winfried Broseke, aber das sagen nur ein oder zwei der Jugendlichen, wenn sie unter sich sind. Spek ist eben Spek, und er hat die Leitung von ein paar Kids, die besonders geschickt sind. Sie trainieren gemeinsam in einer Kampfschule Karate, Taekwondo und Kickboxen, und sie sind in einem Kampf Mann gegen Mann ziemlich gefährlich. Sie sind eine Schutztruppe und sie greifen manchmal ein, um die anderen Kids ihrer Gruppe vor Übergriffen zu bewahren. Sie besorgen aber auch Geld. Illegal erwirtschaftetes Geld, und sie sind richtig gut darin, andere Gangs abzuzocken. Kathy macht bei diesen Touren nur manchmal mit. Sie läßt sich nirgendwo fest verplanen. Sie hat ihren eigenen Kopf, sie ist bereits jetzt eine Art Unterchefin, die andere gut anleiten kann, trotz ihrer jungen Jahre. Sie behält fast stets den Überblick, und sie steht treu auf der Seite ihrer Bandenmitglieder.

      Dieser Spek ist eine besondere Hausnummer. Obwohl noch jung an Jahren, ist er der geborene Teamplayer. Er kann ruhig sein und zuhören. Er kann vor Wut explodieren. Er führt eine Art Regime, und er ist der ungekrönte König in seinem Bereich der Aktivitäten. Seine Truppe kann sich aber auch hundertprozentig auf ihren Anführer verlassen. Er steht zu ihnen. Er haut sie heraus, wenn es notwendig ist. Er kann aber auch regelrecht brutal werden, wenn es darum geht, sich gegenüber anderen Gangs durchzusetzen. Dabei ist Spek äußerst erfindungsreich in der Auswahl seiner Methoden und Mittel. Er ist schwer durchschaubar, und man muss immer mit ihm rechnen. Spek könnte eine große Karriere als Mafiaboss vor sich haben, aber er sieht seine Aufgabe im Schutz von Schwachen. Dabei kann Spek sehr kooperativ sein. Er teilt sich mit Roy die Aufgaben, und sie reden sich nicht gegenseitig hinein.

      All das ist für Artemis neu und aufregend. Auch das ist eine Parallelgesellschaft, die er bisher nicht kannte.

      Er lebt eine Weile unerkannt bei diesen Kindern. Manchmal im Tunnel, manchmal oberirdisch. Er erlebt Konflikte. Er erlebt Schiebereien. Er erlebt Diebstähle und Messerstechereien. Er erfährt, was ein Überlebenskampf bedeutet, der aus Nahrung, Kleidung, Zuneigung und gegenseitigem Schutz besteht, und auch etwas, was als Bildung oder Wissen bezeichnet wird. Er sieht aber auch, was Armut heißt. Er lernt den Begriff der Freundschaft kennen, und so etwas wie einen geheimen Code. Roy sagt dazu Aufgabe, oder auch ethische Verpflichtung. "wir haben eine Aufgabe...", sagt er dann, denn das sind nicht nur kriminelle Kids. Sie besitzen einen strengen Ehrenkodex. Sie haben sich verpflichtet, sich gegenseitig zu schützen, um gemeinsam zu überleben, und zugleich, um ausgewählten anderen Kids Schutz zu bieten, die auch am Ende der Armutsskala stehen.

      Sie haben Kontakt zu anderen Kindern und Jugendlichen, die irgendwo in Berlin leben, zusammen mit ihren Eltern, und die in normale Schulen gehen. Öffentlich und ganz legal. Einige dieser Kinder werden von ihnen sogar unterstützt. Dann, wenn es Auseinandersetzungen mit anderen Kids gibt, so dass sie Hilfe brauchen, dann, wenn sie ihre Chancen, oder etwas, was Roy den Lebenstraum nennt, ohne die Gruppe nicht hätten ergreifen können. Eines dieser Kinder ist Beatrice, oder kurz Bea genannt. Bea galt bereits in jungen Jahren als Wunderkind. Schauen wir deshalb ein paar Jahre zurück.

      Bea war schon im Kindergarten aufgefallen durch ihre melodische Stimme und ihr gutes Gehör. Irgendwann hatte sie mit ihrer Mutter vor einem Musikladen gestanden. Sie hatte all die Instrumente betrachtet. Sie hatte viele Fragen. Dann war der Inhaber aus dem Laden gekommen, um eine Zigarette zu rauchen, und als er Bea so stehen sah, fragte er sie, ob sie nicht mal reinkommen wolle. Bea hatte die Instrumente betrachtet und vorsichtig über die Saiten gestrichen. Der Verkäufer hatte die glänzenden Augen gesehen, und hatte ein Etui mit einer 1/16 Zoll Geige geöffnet, sie gestimmt und ihr erklärt, wie man die Geige hält. Bea war damals gerademal vier Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre Eltern überredet, ihr diese Geige zu Weihnachten zu schenken. Sie war gebraucht, und kostete damals 200 Mark. Viel Geld für eine Vierjährige. Viel Geld für die Eltern, die sich finanziell gerade so über Wasser halten konnten.

      Die Großeltern steuerten einen Teil dazu bei, und nun zeigte die vierjährige ein erstaunliches Talent. Sie sang immer, wenn sie ihr Instrument versuchte zu spielen, und es gelang ihr schon bald, die anfangs nur quitschenden Töne des Instruments zu verwandeln. Sie nahm die Mutter manchmal an die Hand und besuchte den Ladeninhaber. Sie überredete ihn, ihr ein paar Handgriffe und Techniken zu zeigen. Innerhalb von nur einem Jahr konnte sie einfache Kinderlieder spielen, und als es im Kindergarten ein Adventskonzert geben sollte, bat sie darum, die Kinder auf der Geige zu begleiten. Das war der Tag, wo sie vielen Eltern als ein Talent auffiel, das man fördern müsse. Die Eltern von Bea hatten gleichwohl kein Geld für eine Musikschule, und deshalb sprach die Kindergärtnerin mit den anderen Eltern, ob sie ein paar Mark in einen Fonds zahlen wollten, so dass Bea ab und zu eine Übungsstunde bekommt. Das war nicht nötig, weil eine der Mütter selbst Geige spielte, und sich anbot, Bea zu unterrichten. Bea machte schnell Fortschritte, die Geige wurde ausgetauscht gegen eine 1/10 Geige und als sie in die Grundschule kam, wurde

      Artemis lernte Bea kennen, da war sie sieben. Sie spielte inzwischen auf einer 1/4 Geige, und spielte inzwischen mit ihre Lehrerin Duette. Sie würde ihre Lehrerin wohl bald an Können überflügeln.