Konzerten hatte sie einen ganz eigenen Stil in Form von Live Acts entwickelt, mit einer Musik, die von verschiedenen nativen Stilrichtungen beeinflusst war. Damit hatte Bea ein Millionenpublikum angesprochen. Sie hatte Menschen zu Tränen gerührt und zum Lachen gebracht. Sie hatte Gegner geeint, und sie hatte mit ihrem Spiel tiefes Glück verbreitet. Niemand war zu ihren Lebzeiten jemals an die musikalischen Fähigkeiten von Bea herangekommen, und sie besitzt eine Fangemeinde, die wohl mehrere hundert millionen Menschen jedes Alters und jeder sozialen Schicht umfasst.
Auch der Platz rund um die Frauenkirche ist dicht gedrängt mit Trauergästen, bis zum Postplatz und bis hinunter zur Brühlschen Terasse. Überall sind Lautsprecher aufgestellt, aus denen die Trauerfeier live übertragen wird. Der Bundes-präsident selbst hat es sich nicht nehmen lassen, die zentrale Trauerrede zu halten.
Als Musik wird Händel und Bach gespielt, dirigiert vom Stardirigenten der Berliner Synphoniker und seinem Orchester.
Rund um die Frauenkirche schirmen wohl dreitausend Sicherheitsbeamte in Zivil die Veranstaltung ab, sowie mehrere Verbände der Bereitschaftspolizei, die in der Wilsdrufer Straße, am Postplatz, und in der Sophienstraße Position bezogen haben, und in kleinen Gruppen von 12 Mann mitten in der Menge stehen. Dazu kommen Ordner in schwarzen Uniformen mit gelber Armbinde, um die Ströme an Sonderbussen, Limousinen und die Massen an Fußgängern zu dirigieren. Schließlich ist eine solche Veranstaltung auch der geeignete Ort für Attentate, oder politische Demonstrationen. So etwas will man hier nicht riskieren.
Direkt vor der Frauenkirche gibt es einen Ring, der von Sperrgittern abgesichert ist, und zusätzlich von Polizei in Zivil, mit den typischen Ohrsteckern und Sprechfunk. Sie tragen unter ihren schwarzen Anzügen Sicherheitswesten und sind bewaffnet, aber man sieht das nicht. Hochrangige Trauergäste brauchen eben einen sichtbaren Beweis von Schutz.
Es hätte nur die Ordner gebraucht, nicht aber die Polizeikräfte, die Sicherheitsbeamten der CIA und die Geheimdienste der russischen und chinesischen Führung, die sich hier unter die Trauergäste gemischt haben, um jederzeit eingreifen zu können, denn Chénoa Maria (die älteste Tochter von Leon) hatte bestimmt: “Wir wollen eine geordnete und ruhige Feier, und wir werden dafür sorgen, dass das Andenken an Bea in einem gebührenden Rahmen stattfindet, frei von Krakeelern, oder gar einer politisch motivierten Bluttat,” und Chénoa Maria verfügt über die Macht, dies auch durchzusetzen.
Zu Beginn der Trauerfeier war ein verglaster Wagen durch die Menge gefahren, mit der gut sichtbaren Urne mit Beas Asche, geschmückt von Lilien, Orchideen und Chrysanthemen. Sie wurde dann in einer feierlichen Prozession in die Kirche getragen. Viele Besucher hatten Blumen mitgebracht und sie in Richtung des Wagens geworfen. Viele Besucher weinten, so dass der Wagen eine Spur aus Blumen und Tränen hinter sich ließ.
In Wirklichkeit war die Urne leer. Beas sterbliche Überreste waren zwar am Vortag in Berlin heimlich verbrannt worden. Dort wurde auch die Urne mit ihrer Asche gut gesichert aufbewahrt. Sie würde später im “Zentrum” hinter Glas ausgestellt werden, bevor sie dann auf Beas persönlichen Wunsch auf dem Friedhof in Berlin-Schöneberg in eine Gruft überstellt werden würde. Die Gruft war bisher allerdings nur geplant, und der Bau würde sich noch einige Wochen oder Monate hinziehen. Das würde noch einmal eine letzte große Trauerfeier geben, mit tausenden von Besuchern.
Kehren wir nach Dresden zurück. Leons Tochter Chénoa Maria sorgt wirklich für einen friedlichen Ablauf, und sie hat die Macht, dies auch durchzusetzen. Sie schickt in diesen Stunden unsichtbare Energiewellen in die Mikrophone, die sich schon vor den eigentlichen Festreden mit der Musik über die Lautsprecher verteilen. Sie hat sich Verstärkung mitgebracht. Ihre Tochter Clarissa und ihre Nichte Solveig, die irgendwo da draußen in der Menschenmenge stehen, verbunden mit einem Mikrophon. Auch sie schicken ihre Energiewellen in den Äther. Für den, der diese Energie sehen kann, wie Leon oder sein Sohn Nakoma, ist das wie ein Sturm, der sich über ganz Dresden legt und sich in den Köpfen der Menschen festsetzt. Er hinterlässt in den Herzen der Menschen einen tiefen Frieden. Niemand hätte die Kraft gehabt, sich über diese Macht der Energie hinwegzusetzen, um die friedliche Trauerfeier von Bea zu stören.
Diese Energie von Chénoa Maria, Clarissa und Solveig gehört zu den Geheimnissen des Familienclans. Diese Energie ist da, aber man redet nicht öffentlich darüber. Sie ist eine der Ursachen, warum sich der Familienclan in den letzten 70 Jahren in den Machtzentren der Welt festsetzen konnte, wie eine Zecke. Die Sicherheitsbeamten dienen nur dazu, den Mächtigen der Welt das Gefühl von Schutz zu vermitteln, das zu den üblichen Szenarien gehört, wenn wichtige Politiker auf Reisen sind. Sie sind für die Öffentlichkeit ein Zeichen von der Präsenz der Schutzmacht, die sich in unmittelbarer Nähe der Kirche allerdings friedlich, würdig angezogen, gut sichtbar, aber auch entschlossen präsentiert, dem feierlichen Rahmen entsprechend. Das Innenministerium hat allerdings vorgesorgt. Gut trainierte Beamte in voller Montur und bewaffnet mit Schnellfeuerwaffen stehen in Nebenstraßen bereit, um notfalls einzugreifen. Bei hohen Staatsbesuchen ist das üblich.
Leon ist nun schon ein alter Mann von 78 Jahren. Er kümmert sich um diese Dinge heute nicht. Er trauert wirklich, denn diese Freundschaft mit Bea hatte ein Leben lang bestanden. Sie hatten ihren Weg miteinander geteilt, und sie hatten so unendlich viel miteinander in Gang gebracht.
Es gibt ein geflügeltes Wort: wenn ein Mensch stirbt - so sagt man - tritt das Leben aus ihm heraus. Leon muss unwillkürlich lächeln. Das Leben tritt aus dem Körper heraus… übrig bleibt eine leere Hülle aus Zellen und Wasser, und das Leben? Wohin ist es hin gegangen? Leon kann mit Beas Seele reden. Bea kann ihm zuhören und sie kann seine Fragen beantworten. Ihre Seele ist dageblieben. Wenn Leon nach Bea sucht, und das hat er in den letzten Tagen ein paar Mal gemacht, findet er diese Seele, aber sie lebt nicht nur in ihm, sondern auch in der Erinnerung von vielen Millionen anderen Menschen fort, und sie bleibt für die Menschen noch lange sichtbar, die Bea besonders nahegestanden haben.
Während die Smartphones im Innern der Kuppelkirche verboten sind, um die Feier nicht zu stören, ist das draußen auf den Plätzen rund um die Frauenkirche ganz anders, obwohl die Veranstalter um Mäßigung gebeten haben.
Da klingeln Telefone, da werden Selfies und Filmaufnahmen gemacht, und da wird rege telefoniert, gesimst und getwittert.
Natürlich gibt es mehrere Fernsehteams, welche Bilder der Trauerfeier in die Welt liefern, auf dem Platz und in der Kirche, aber es gibt Tausende von Besuchern, die es sich nicht nehmen lassen, ihre eigenen Bilder zu machen.
In jeder Versammlung gibt es Neugierige und Schaulustige. So lästig das manchmal ist, so werden die Bilder der Veranstaltung noch einmal tausendfach verstärkt in die Welt verschickt, während die Feier noch in Gange ist. Über Facebook. Über Youtube. Über viele Kanäle von Social Media, und auch über die Seiten von Zeitungen, die ihre Nachrichten schon längst bevorzugt über ihre eigenen Online-Präsenzen verschicken. Über allem schwebt die Musik der Berliner Synfoniker, und webt die Besucher ein.
Auch Solveig und Clarissa, die mitten in der Menschenmenge stehen, die sehen und hören, was um sie herum geschieht. Sie beginnen ihre unsichtbaren Energiestrahlen zu verändern. Immer mehr Menschen schalten ihre Smartphones jetzt stumm, oder sogar ganz ab, und gegen Ende der Veranstaltung sieht man niemanden mehr telefonieren. Nur die professionellen Fotografen und die Filmteams des Fernsehens machen noch ihre Bilder, wie immer bei solchen Ereignissen.
Teil 1, Kapitel 2.
Erinnerungen eines alten Mannes
Leon gestattet sich in diesem Rahmen den Rückblick auf seine Kindheit, als er Bea zum ersten Mal hatte spielen hören. Er denkt über die Geigen nach, die er einmal für Bea entdeckt hatte. Er erinnert sich an die Konzerte in der Frauenkirche, in Notre-Dame-de-Paris, im Chateau de Chambord, in der Carnegy Hall (New York), in Südamerika und an der Mailänder Scala. Er denkt an die Musicals, die Bea zusammen mit seiner Tochter Lara und mit der Startänzerin Helen entwickelt hat, und die den drei Künstlern zu Weltruhm verholfen haben.
Das ist lange her.