Kirschen. Nils schmolz wie Schokolade in der Sonne. Er küsste zurück und genoss einen Moment diese warme Glut. Dieses Mädchen war echt unglaublich. Er musste sich losreißen. Er atmete schwer, drückte ihr die Hand und schlüpfte aus der Tür. Draussen lehnte er sich an die Wand und atmete tief ein. Er spürte plötzlich durch die Mauer, dass Helen dasselbe machte. Er schüttelte den Kopf. Das musste ihm gerade heute passieren. Heute brauchte er einen klaren Kopf.
4.
Als er in die Wohnung kam, wartete Théra auf ihn. „Komm, leg dich ein bisschen hin, du brauchst jetzt Ruhe.“ Sie brachte ihn in sein Zimmer, dann setzte sie sich neben das Bett, nahm seine Hand und fing an zu summen. Fünf Minuten später war Nils eingeschlafen.
Papa sah Théra an. „Wird Nils das heute schaffen?“
Théra nickte. „Ich bin mir sicher. Nils ist verwirrt. Er ist von der Liebe wie von einem Blitz getroffen worden, aber er wird heute abend wach sein. Wir können auf ihn zählen.“
Dennis sah Théra stirnrunzelnd an.
„Ja ja, ist gut. Es wird gefährlich heute. Nils muss einen klaren Kopf haben, aber vertrau mir. Nils schafft das.“
Später am abend ging Théra noch mal weg. Dennis ging zu Nils, aber der schlief wie ein Stein. Dennis seufzte.
Er kannte dieses Gefühl. Er sah Laura an und sie nahm ihren Mann in die Arme. „Wenn du dir nicht sicher bist, dann lass Nils zuhause. Du wirst das mit Théra auch alleine schaffen. Dennis nickte, als die Türe aufging. Eva platzte mitten herein. „Oh, stör ich?“ Nein, nein, komm, setz dich zu uns.“
Eva setzte sich schräg gegenüber auf den Sesselrand und fixierte Dennis. „Nils wird das schaffen, glaub mir.“ Dennis sah erstaunt auf und Eva bekräftigte. „Dieses Mädchen hat ihm den Kopf verdreht, aber heute Nacht ist Nils bei klarem Verstand.“
„Aber...“ hatte Laura auf den Lippen... Dennis lachte leise. Seine Kinder waren schon unvergleichlich. Eva hatte das alles gesehen. Deshalb war sie nach Hause gekommen. Sie wusste, dass sie ihn jetzt bestätigen musste. Er lächelte dankbar. Eva ging zu ihren Eltern, kniete sich vor die beiden hin und nahm ihre Hände. „Es wird gefährlich, aber es wird gut gehen. Nur nicht die Vorsicht außer acht lassen. Diese Russen sind wie Skorpione.“
Dann zog sich Eva zurück. Dennis hatte ihr nichts erzählt, aber sie hatte seine Gedanken gelesen. Seine, die von Théra und die von Nils.
5.
Théra kam um halbzwölf wieder. „Ich hab’s“, sagte sie nur. „Jetzt können wir Nils wecken.“ Sie ging hinüber, setzte sich neben Nils, nahm seine Hand und fing an zu summen. Nach drei Minuten schlug Nils die Augen auf. Er starrte einen Moment an die Decke, dann sah er zu seiner Schwester. „Is’ Zeit? Dann mal los. Wir haben heute eine Aufgabe.“
Sie wurden abgeholt. Eine schwarze unauffällige Limousine mit starkem Motor und aufgemotztem Fahrgestell. Eine Granate von Auto. Äußerlich sah man das dem Auto nicht an.
„Wo sind sie jetzt?“ fragte Dennis den Fahrer. „Sie haben grade die Grenze überschritten. Hat ein bisschen gedauert, weil sie unterwegs eine Reifenpanne hatten.“ Dennis nickte. Gut, dann haben wir genügend Zeit. Er sah auf seine Uhr. Kurz vor zwölf.
Sie fuhren hinüber nach Brandenburg. Sie benutzten Landstraßen, der Fahrer fuhr ruhig und sicher. Er hatte das schon oft gemacht. Bloss nichts riskieren. Nicht bei einem solchen Auftrag. Er würde Dennis und seine Kinder irgendwo rauslassen, dann würde er weiterfahren, einen Bogen drehen und nach Berlin zurückkehren. Dennis würde wissen, wie er nach Hause kommt. Dennis wusste immer, wie er zurückkommt.
Er ließ Dennis an einer dunklen Kreuzung raus und zeigte in die Richtung. Etwa eine halbe Stunde in diese Richtung. Dennis nickte. Er hatte den Weg schon ein paar mal gemacht, auch nachts. Er wusste, dass es Wachen mit MP und scharfe Hunde gab. Fledermäusen tun die Hunde nichts.
An einer getarnten Stelle zogen sich Dennis und seine Kinder aus. Sie versteckten die Kleidung unter den Büschen, verwandelten sich in Fledermäuse und schwirrten los. Die Signale der Fledermäuse sind im Dunkeln unnachahmlich. Sie „sahen“ jeden Baum, jeden Strauch, jeden Wachmann und jeden dieser gefährlichen Kampfhunde, die von den Russen benutzt wurden. Dann hängten sie sich unter den Giebel des Bauernhofes, der umfriedet mitten in Feldern lag, die nicht mehr bewirtschaftet wurden.
Das war Russengebiet. Es wurde weiträumig bewacht.
Eine Stunde später sahen sie in der Ferne Lichtkegel. Dann hielten sie an und fuhren nach einer Weile wieder weiter. Unter Nils klingelte ein Handy.
„OK“, sagte einer der Russen, „sie kommen.“ Die Tür ging auf, der Lichtschein fiel kurz nach draussen. Zwanzig Gestalten kamen raus, bewaffnet mit MP’s. Sie verteilten sich im Gelände.
Dann war es still. Nicht einmal das Glimmen einer Zigarette war zu sehen. Das waren wirklich Profis.
Das Gelände war weitläufig durch einen Zaun abgegrenzt. Das Tor wurde jetzt geöffnet und der LKW rollte hinein. Es war ein großer LKW. Der 40-Tonner bremste vor dem Haus, dann ging überall das Flutlicht an.
Nils hörte, dass Dennis und Théra leise summten. Nur er hörte das. Sie wollten die Sprache verstehen. Er war der einzige, der russisch verstand. Papa und Théra mussten ihre Kräfte dafür einsetzen.
Die Fahrer stiegen aus und hoben die Hände. Von zwei Seiten kamen jetzt bewaffnete Männer, je einer untersuchte die Fahrer nach Waffen, dann warf er die Pistolen in das Dunkel außerhalb des Lichtscheins.
Sie befahlen den Fahren, den Schlüssel rauszurücken und sich auf den Boden zu legen. Nur einer der Bewaffneten blieb im Focus der Lampen, die anderen verschwanden wieder ins Dunkel. Wenn etwas mit der Ladung nicht stimmte, würden sie sofort anfangen zu schießen. Dennis und Nils hatten das schon einmal erlebt. Damals hatten die Russen 40 Leute umgenietet. Die Leichen waren nie gefunden worden.
Diesmal ging alles glatt. Der Russe öffnete die Flügeltüren. Darin standen Paletten mit Kartons und einer der Russen kam jetzt mit einem Hubwagen angefahren. Er hob eine der Paletten nach der anderen heraus und stapelte sie im Hof. Dahinter kam noch eine Ladung Paletten zum Vorschein, und er hob auch davon einen Teil heraus. Diese Kartons schienen leer zu sein. Sie waren nur mit Bändern verschnürt, wie echt.
Einer der Männer kam aus dem Dunkel und rief in russisch hinein. „Ihr könnt jetzt rauskommen. Hände über den Kopf. Ihr springt einzeln raus und macht zehn Schritte vorwärts. Dann bleibt ihr stehen. Dawai, dawai,“ bekräftigte er.
Er selbst trat zurück, die MP im Anschlag.
Nun traten die Mädchen einzeln an die Laderampe. Sie blinzelten in das gleisende Licht, dann sprangen sie herunter und nahmen die Hände über den Kopf.
Nils war verblüfft. Irgendwie schienen die Russen heute besonders schlecht gelaunt zu sein, und er war zugleich traurig. Die armen Mädchen. Sie wurden unter irgendeinem Vorwand hierher gelockt, aber das war Frischfleisch für den boomenden Nuttenmarkt in Berlin und anderswo.
Es waren junge Mädchen. Sie waren schlecht gekleidet. Offenbar hatte es in den LKW nicht einmal eine Toilette gegeben. Es stank. Sie sprangen einzeln heraus und sie zitterten vor Angst, Müdigkeit und Hunger. Einige konnten sich kaum auf den Beinen halten. Welch ein Jammer.
Der LKW war wirklich voll. Zum Schluss standen vielleicht hundertzwanzig Mädchen im Scheinwerferlicht, die Hände immer noch über den Köpfen. Es waren Mädchen dabei, die mochten gerade mal 12 sein.
Der Russe trat nun an den LKW, leuchtete mit einer Stablampe hinein und stöhnte. „Was für ein Dreck.“ Er winkte vier seiner Freunde herbei und sie spielten „Hammelsprung“. Sie stellten sich gegenüber auf und winkten die Mädchen herbei. Zwei tasteten die Mädchen ab. Gesicht, Zähne,