Keweloh Astrid

Einführung in das Lebensflussmodell


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       Abb. 3: Der Lebensfluss einer Familie mit einem Jugendlichen (sein Seil verläuft in der Mitte zwischen den Seilen der Eltern), von der Vergangenheit aus betrachtet in Richtung Zukunft

      Krisen lassen sich im Kontext des Lebens mittels Regression und Progression aus anderen Perspektiven wahrnehmen, wodurch sich neue Lösungswege und Möglichkeiten im wahren Sinne eines handhabbaren Ziels ergeben. Ein Ziel, das im Bereich des Möglichen liegt!

      In der spontan auftauchenden Alltagstrance kann der Klient Reisen in die Zukunft unternehmen, um Visionen und Hoffnungen zu entwickeln, aus der Vergangenheit Ressourcen ins Jetzt holen oder herausfordernde Situationen in der Gegenwart gestalten.

      So ist der Klient in der Lebensflussarbeit ein Zeitreisender – gleichzeitig an diesem und an anderen Orten, in der jetzigen Zeit und in anderen Zeiten –, wenn er in Trance die Positionen am Lebensfluss wechselt oder seine eigenen Erfahrungen an ihm vorbeiziehen.

      Wenn Menschen zur Beratung kommen, haben sie häufig einen Tunnelblick – fest fixiert auf die Krise und nicht auf die potenziellen Lösungen, die unentdeckt im Inneren zur Verfügung stehen.

      Bei der Lebensflussarbeit entstehen in der Regel automatisch Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken und Bilder für Lösungen, die körperlich und sinnlich erfahrbar sind. Zudem entwickelt sich häufig ein Perspektivwechsel in Richtung Lösung, sodass sich meist recht bald ein hilfreicher Stimmungsumschwung herbeiführen lässt. Mit rein verbalen Methoden fällt es oft nicht so leicht, solch einen Stimmungsumschwung in Richtung konstruktive Lösung und Perspektivwechsel schnell herbeizuführen. Das Lebensflussmodell führt von Beginn an in Richtung Lösung. Es werden alle Sinne genutzt, und der Lösungsprozess wird ganzheitlich begleitet. Ressourcen, die in Vergessenheit geraten sind, werden wieder wahrgenommen und genutzt: gewinnbringende Erfahrungen aus der Kindheit, aus der Jugend oder aus früheren Zeiten. Die Klienten können ihr »inneres glückliches Kind« wiederentdecken, zu dem ihnen häufig der Zugang verloren gegangen ist. Diese neue Begegnung kann eine hilfreiche Unterstützung bei Problemlösungen darstellen.

      Die konstruktiven Kräfte des Klienten kommen wieder ins Fließen, und vorhandene Problemtrancen oder Blockaden werden durch Lösungstrancen ersetzt. Ressourcen können aus der Vergangenheit in die Zukunft transportiert und dort verankert werden, sodass neue Hoffnung, Sicherheit und Stabilität, ein gestärktes Selbstwertgefühl, neue Wege und Visionen entstehen, um kraftvoller in die eigene Zukunft gehen zu können.

      Der Schwerpunkt dieser Trancemethode liegt auf dem Wahrnehmen, Fühlen und Spüren – um in der Trance Bilder und Visionen zu entwickeln, die sich mit genügend Raum und Zeit tief im Unbewussten des Klienten verwurzeln können. Die Lebensflussarbeit berührt die Herzen der Klienten, und die Basis ist das aktive Handeln. Es ist wichtig, die entstehende Energie nicht zu zerreden, sondern achtsam und wertschätzend die Prozesse des Klienten zu begleiten. Die neu erlebten Erfahrungen werden sowohl in Bildern als auch emotional und körperlich erfahrbar, entsprechend gespeichert und sind in Alltagssituationen abrufbar.

      1Foto von Lukas Wohlschläger; © Astrid Keweloh.

      2Fotografien der Lebensflüsse von Eileen Löffler, Augsburg; © Astrid Keweloh.

       2Die Entwicklung des Lebensflussmodells

       2.1Der Begründer des Lebensflussmodells

      Der Münchner Familientherapeut Peter Nemetschek entwickelte das Lebensflussmodell in den 1980er- und 90er-Jahren als Element und Grundlage seiner Ausbildungen in systemischer Familientherapie. Später setzte er die Arbeit mit Seilen und Symbolen auch vielfältig in Coaching-Kontexten ein und bezeichnete diese Visualisierungen als »professionelle Time-Line«. Seiner Aussage nach entwickelte er diese Modelle vollständig unabhängig von der Timeline-Arbeit, die in den 1980er-Jahren parallel im NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) entstanden ist. Hier wird die Visualisierung eines jeglichen persönlichen oder beruflichen Bereichs Timeline-Arbeit genannt. In der Arbeit von Peter Nemetschek stellt die sogenannte »Time-Line« als Ergänzung zum Lebensfluss nur die berufliche Lebensgeschichte dar.

      Peter Nemetschek wurde 1937 in Österreich geboren. Er musste als achtjähriges Kind mit seiner Mutter aufgrund der Auswirkungen des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges unter sehr schwierigen Bedingungen nach Deutschland fliehen. Überlebt hatte er all das mithilfe seiner Fantasie: Er imaginierte eine Traumwelt in der Zukunft: »Wenn ich mal groß bin!« – »… dann bin ich auf einer Insel im Pazifik …« (Nemetschek 2006, S. 73). Diese Vorstellung hat ihm geholfen, in einer sehr belastenden Umwelt zu überleben. Er hatte viele schwerwiegende Krisen schon in jungen Jahren zu überstehen: eine Lungentuberkulose, Bombenangriffe, Vertreibung und Flucht, dann ein Leben als Flüchtlingskind auf einem Einödhof in Oberbayern. Als Überlebensstrategie haben sich die Haltung und der Schwur »So wie diese wahnsinnigen Erwachsenen werde ich nicht leben« tief bei ihm eingebrannt. Ebenso war Humor von Beginn an in seiner Familie eine überlebenswichtige Ressource, die sich auch in der Lebensflussarbeit wiederfindet. Die Therapiestunde kann man dabei als Modell für das normale Leben betrachten: Wie gehe ich mit Krisen, mit Schwierigkeiten um? Nehme ich die Einladung ins Negative direkt an oder bleibe ich dennoch mit der Lösungshaltung verbunden? Die Basis der Lebensflussarbeit bildet eine ressourcenvolle lösungsorientierte Grundhaltung mit einer wertschätzenden, akzeptierenden Haltung für das Schwierige und Dunkle im Leben – aber ohne sich darin zu verlieren. Humor ist ein wichtiger Aspekt in dieser Arbeit. Sie erleichtert den Umschwung hin zur positiven Lösungshaltung.

      Peter Nemetscheks Leben war und ist bunt – er nennt sich selbst »doppelbegabt im bildnerischen Darstellen und im Umgang mit Menschen«. Aus einer Architektenfamilie stammend, ausgebildet an der Akademie der Bildenden Künste, gehörte er in den 1970er-Jahren zur künstlerischen Avantgarde. Den »Aktionsraum 1« in München gründete er mit zwei anderen Künstlern. Seine Arbeiten wurden in vielfältigen Medien veröffentlicht, seine hervorragenden bildnerischen Fähigkeiten bildeten die künstlerische Grundlage für die Entwicklung seines Lebensflussmodells.

      Peter Nemetschek ist auch ein sehr erfahrener Geschichtenerzähler. Über zwanzig Jahre hinweg unterstützte er das ZDF als pädagogischer Berater in der Kinder-, Jugend- und Familienredaktion wie zum Beispiel bei der »Rappelkiste« oder »Neues aus Uhlenbusch« (Nemetschek, Madelung u. Gulden 1971). Ausgezeichnet wurde diese Arbeit unter anderem mit Grimme-Preisen. Auch diese Kinderfilme wiesen eine Struktur auf, die sich in der Lebensflussarbeit widerspiegelt: Von der äußeren Realität wird der Fokus lupenartig auf die Innenwelten der Kinder und Erwachsenen gerichtet, und die Erzählstränge sind eindeutig lösungsorientiert – unabhängig davon, wie desolat sich das äußere Umfeld der Filmhelden gestaltet.

      Seine soziale Arbeit begann Nemetschek als Erzieher in der Heilpädagogik in München im sozialen Brennpunkt Hasenbergl, was ihn sehr beeindruckte und »für das wahre Leben« geschult hat. 1978 legte er den Grundstein für seine familientherapeutische Praxis in München.

      Peter Nemetschek lernte bei bedeutenden Therapeuten. Er besuchte Seminare der Familientherapeutin Virginia Satir und Veranstaltungen der strategischen Familientherapie bei Cloé Madanes und Jay Haley sowie hypnotherapeutische Seminare bei Milton H. Erickson und Jeffrey Zeig. Interessiert war er auch an der lösungsorientierten Therapie von Insoo Kim Berg. Einige der Genannten hielten Workshops in seinem Seminarhaus in der Nähe von München. Maßgeblich in der Entwicklung seines Modells beeinflussten ihn Virginia Satir und ebenso Milton H. Erickson.

      1981 gründete Peter Nemetschek sein Ausbildungsinstitut »Die Münchner Schule mit dem Lebensflussmodell« und bildet seitdem in systemischer Familientherapie, Supervision und Coaching aus. Für sein familientherapeutisches Engagement in den neuen Bundesländern erhielt er die Bundesverdienstmedaille.

      Im Anhang finden Sie Auszüge aus einem Interview, in dem Peter Nemetschek die wichtigsten Stationen seines privaten und beruflichen Lebens darstellt, die ihn maßgeblich bei der Entwicklung der