Bernhard Kempen

Europarecht


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78 Abs. 3 AEUV – wie etwa die Aktivierung eines Notfall-Umverteilungsmechanismus (Beschluss [EU] 2015/1601, vom → Europäischen Gerichtshof [EuGH] bestätigt: Urt. v. 6.9.2017, C-647/15) – getroffen werden; diese tragen aber nur wenig zu einer nachhaltigen Problemlösung bei. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass die bestehenden Zuständigkeitsregeln der Dublin-III-VO in Zeiten verstärkter Migrationsströme zu einer Verteilungsungerechtigkeit zulasten des ohnehin wirtschaftlich weniger begünstigten südlichen Teils des Unionsgebiets führen. Der Stellenwert des europäischen Asylrechts in seiner gegenwärtigen Form entfacht sogar angesichts politischer Instrumentalisierung durch nationalistisch-populistische Strömungen in einzelnen Mitgliedstaaten die Gefahr, die Errungenschaften der auf Frieden und Freiheit errichteten Union als solche in Frage zu stellen. Angesichts dessen besteht jedenfalls aus rechtspolitischer Sicht ein struktureller Reformbedarf des „Dublin-Systems“, auf den die Kommission mit dem Entwurf einer – jedenfalls der Sache, jedoch nicht der Bezeichnung nach – „Dublin-IV-VO“ reagiert hat (zuletzt i.d.F. vom 21.8.2016, Dokument COM[2016]270/F2). Hierüber setzen sich die schwierigen politischen Verhandlungen fort (Stand: Juli 2018).

      A › Auslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt)

      I.Herausforderungen bei der Auslegung des EU-Rechts197 – 200

       1.Komplexität der Wortlautinterpretation198, 199

       2.Entscheidungskompetenz200

      II.Auslegungsmethodik des Gerichtshofs der EU201 – 212

       1.Sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung202 – 204

       2.Acte-clair-Theorie205, 206

       3.Implied-powers-Doktrin207, 208

       4.Effet-utile-Grundsatz209

       5.Rangfolge der Auslegungsmethoden210, 211

       6.Teleologisch-systematische Herangehensweise212

      III.Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU213 – 215

      Lit.:

      C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1998; M. Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2003; M. Derlén, Multilingual interpretation of European Union law, 2009; S. M. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997; G. Hirsch, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration, JöR 49 (2001), 79; A. von Oettingen, Effet utile und individuelle Rechte im Recht der Europäischen Union, 2010; M. Potacs, Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1996; G. G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998; S. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008.

      196

      

      Die Kernaufgabe des Gerichtshofes der EU (→ Gerichtssystem der EU) ist es – also aller rechtsprechenden Institutionen gemeinsam –, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. Diese Aufgabe ergibt sich unmittelbar aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV und ist aus mehrerlei Gesichtspunkten anspruchsvoll (Rn. 197 ff.). Hierzu verwenden der → Europäische Gerichtshof (EuGH) und das → Gericht der EU (EuG) grundsätzlich die juristischen Argumente der klassischen Methodenlehre. Zum Teil wird deren Inhalt jedoch modifiziert oder erweitert. Einige Argumente lassen sich auch mehreren Kategorien zuordnen (Rn. 201 ff.). Für seine Auslegungspraxis ist der Gerichtshof der EU zuweilen kritisiert worden (Rn. 213 ff.).

      AAuslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt) › I. Herausforderungen bei der Auslegung des EU-Rechts

      197

      Die Herausforderungen bei der Auslegung des Unionsrechts können inhaltlich kaum überschätzt werden. Dies liegt zunächst v. a. an der Sprachenvielfalt, in der sich das Unionsrecht darstellt (Rn. 198 f.). Darüber hinaus sind die unionsrechtlichen Regelungs- und Entscheidungskompetenzen nur insoweit gegeben, wie diese der Union von den Mitgliedstaaten ausdrücklich verliehen wurden, sog. → Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Ist das Unionsrecht nicht eindeutig, ergeben sich hieraus dogmatische Probleme (Rn. 200).

      198

      Ausgangspunkt bei der Auslegung des EU-Rechts ist der Wortlaut einer Vorschrift. Das Unionsrecht findet sich jedoch in zahlreichen Sprachfassungen. Maßgeblich für die Auslegung sind allerdings nur die verbindlichen Fassungen. Welche Sprachfassungen einer Vorschrift verbindlich sind, kann im Hinblick darauf, ob es sich um Vorschriften des → Primärrechts oder des → Sekundärrechts handelt, unterschiedlich sein (→ Sprachenregime der EU). In der weit überwiegenden Zahl der Fälle ist das Unionsrecht jedoch in den Sprachfassungen aller 24 Amtssprachen gleichermaßen verbindlich.

      199