war die erste Detektivin?«
»Sie war keine Detektivin«, sagte Amina und sah Daisy ein bisschen seltsam an. »Sie war eine Göttin.«
»Ja, ja, natürlich«, sagte Daisy. »Komm, Hazel, da drüben steht ein Mann, der sagt, er kann mir eine mumifizierte Schlange verkaufen!«
Und dann dämmerte es. Wieder war es Abendessenszeit (das war wirklich herrlich an der Hatschepsut, wie ungeheuer viel Essen es immer gab) und Theodora erhob sich, um zu verkünden, dass sie an diesem Abend im Salon ein Ritual abhalten wollte.
Typisch für Theodora Miller sagte sie es selbstverständlich sehr barsch.
»Ich möchte, dass Sie alle den Salon heute Abend räumen, verstanden?«, sagte sie zu Mr Mansour. »Ich will ein Ritual abhalten.«
»Aber Madam, die anderen Gäste –«
»Die anderen Gäste spielen keine Rolle«, unterbrach Mrs Miller ihn, und ich merkte, wie Vater neben mir zu brodeln begann. »Das Ritual zum Abwägen des Herzens duldet keinen Aufschub, verstanden?«
Mr DeWitt, Heppy und Miss Bartleby strahlten – doch Daniel warf verärgert die Hände in die Luft und Miss Doggett presste mit bebenden Nasenflügeln die Lippen zusammen.
»Theodora«, sagte sie. »Auf ein Wort?«
»Nicht jetzt, Ida«, entgegnete Theodora Miller. »Das Ritual wird um zehn Uhr abends im Salon stattfinden. Da wir OHNE unsere heiligen Gegenstände sind, weil EINER VON UNS sie in Alexandria im Zollhaus gelassen hat«, hierbei sah sie vorwurfsvoll Heppy an, die mit glänzenden Augen rot wurde, »müssen wir eben improvisieren. Wir brauchen eine Waage, eine Feder, ein Messer und – selbstverständlich – den Kelch des Lebens. Rhiannon, wenn du dich darum kümmern würdest, alles zu besorgen?«
»Das kann ich doch tun, Mu– Theodora«, bot Heppy hoffnungsvoll an.
»Nein, Heppy«, widersprach Theodora. »Du verschusselst es nur, wie das letzte Mal.«
Heppy ließ die Schultern hängen.
»Theo, wenn ich dich kurz unter vier Augen sprechen könnte!«, versuchte es Miss Doggett erneut.
»WAS?«, fuhr Theodora sie an und wandte sich angriffslustig zu Ida um.
Sie tuschelten – neben mir reckte Daisy sich wie eine Schlingpflanze, um zu lauschen, doch leider stand unser Tisch zu weit entfernt. Wir sahen nur, wie Mrs Miller entschieden den Kopf schüttelte, Miss Doggett die Augen zu Schlitzen verzog und anschließend aufsprang, um aus dem Zimmer zu stolzieren.
Alle waren einen Moment lang wie versteinert, unsicher, wie sie so tun könnten, als hätten sie diese Szene eben nicht miterlebt – bis Miss Bartleby in die Hände klatschte und gut gelaunt fragte: »Also, wer hilft mir dabei, ein Messer zu organisieren?« Damit schien der Bann gebrochen.
»Oh, was hat sie nur gesagt?!«, hauchte Daisy mir zu.
»Ich hab’s gehört«, ertönte eine Stimme zu unseren Füßen – und als wir nach unten blickten, sahen wir meine kleine Schwester May, außer Puste und reichlich zerknittert. »Ich hab mich unter dem Tisch versteckt«, verriet sie uns, während sie sich die Haare aus den Augen schob. Schon wieder hatte sich ihr Zopf gelockert.
»Wie kommst du denn auf so was?!«, rief ich.
»Ich übe, weil ich mal Spionin werden will«, erklärte May. »Wollt ihr wissen, was ich belauscht habe? Die dürre weiße Frau –«
»Miss Doggett«, übersetzte ich für Daisy.
»Die also. Sie sagte zu der grässlichen weißen Frau –«
»Mrs Miller.«
»Ja, DIE. Jetzt tu nicht so erwachsen, sondern hör zu! Also sie sagte, dass es kein guter Zeitpunkt für das Ritual ist und sie die Götter zum Gespött der Leute macht und dass sie sie dafür … niederstricken würden. Das Wort kenne ich nicht – was heißt das?« May redete nun wieder auf Kantonesisch, was sie immer tat, wenn sie sich ärgerte oder verwirrt war.
»Meinst du niederstrecken?«, fragte ich auf Englisch.
»Kann sein – Englisch ist eine doofe Sprache. Was bedeutet es?«
»Es bedeutet töten«, sagte ich und dachte an die Tempelwände. »Könige machen das, wenn sie sich über andere ärgern.«
»Oooh«, machte May, »dann hoffe ich, dass jemand niederstrickert wird. Ich geh mal weiter spionieren! Bis später!« Schon war sie fort und kroch von einem Tisch zum nächsten durch den Speisesaal.
Daisy legte das Kinn in die Hände. »Genau wie wir früher«, sagte sie wehmütig. »Ich wünschte, wir wären noch klein genug, um unter den Tisch zu passen. Das ist das einzige Problem am Großwerden.«
Alexander lachte – und sah uns dann schuldbewusst an, während er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. Ich wusste, er dachte daran, wie Daisy und ich uns damals im Orientexpress versteckt hatten.
»Wir müssen dieses Ritual beobachten!«, sagte Amina. Wir anderen starrten sie überrascht an – abgesehen von Daisy, die voller Bewunderung war, bis sie merkte, dass ich sie ansah, und stolz so tat, als wäre es nie geschehen. »Ich will sehen, was diese Trottel vorhaben. Das Wiegen des Herzens gehört zum Leben nach den Tod, wisst ihr? Das Herz des Toten wird von den Göttern mit dem Gegengewicht einer Feder gewogen, um zu sehen, ob er in seinem Leben etwas Schlechtes getan hat.«
»Eine Feder?«, wiederholte Alexander und verzog das Gesicht. »Gegen ein Herz?«
»Meiner Meinung nach muss es eine sehr große Feder gewesen sein«, sagte Amina grinsend.
George betrachtete sie nachdenklich. »Aber wird dich das nicht aufregen?«
»Auch nicht mehr als bisher«, antwortete Amina. »Außerdem ist es ja nicht so, dass ich daran glaube. Ich bin Muslima. Es geht mir mehr um … Na ja, sie ziehen die Geschichte meines Landes ins Lächerliche. Und …«
»Und?«, hakte Daisy nach.
»Und«, sprach Amina weiter, »wenn dabei rein zufällig etwas schieflaufen sollte … Dann wäre das doch lustig, sonst nichts.«
Sie strahlte uns mit funkelnden Augen an – und so kam es, dass wir uns an diesem Abend um zweiundzwanzig Uhr alle gegen das Fenster des Salons pressten und das geheimnisvolle Ritual des Hauch-des-Lebens ausspionierten.
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