auch, dass es eine Stufenteleologie suggeriert; wie die letzten 20 Jahre aber gezeigt haben, können die Spielarten und Genres digitaler Literatur nicht nur sehr gut nebeneinander existieren oder gar ineinander übergehen, sondern auch Konjunkturzyklen durchlaufen, die schwer als Fortschrittserzählung zu fassen sind.
So führt die Hypertextliteratur, die nahezu identisch mit ›digitaler Literatur‹ gelesen wurde, als Genre heute eine ziemliche Randexistenz. Einzig in spezialisierten Systemen wie Twine überlebt sie noch, knüpft aber kaum an die Ästhetiken ihrer Hochzeit an. Das ist nicht verwunderlich: Einerseits hat »Vernetzung«, damals als definitives Element digitaler Literatur verstanden,19 ebenso eine Bewegung »from concept to utility«20 durchgemacht wie »Interaktivität«,21 die mit Likes und Retweets heute ungleich komplexere den Text betreffende Operationsketten ermöglicht. Andererseits ist die Netzeuphorie der 1990er Jahre durch eine politisch, technisch und ästhetisch ausdifferenzierte Netzkritik gedämpft worden.22 So imaginierte Mark Amerikas Derrida-inspirierte Hypertextfiktion »Grammatron« 1997 noch eine anarchische Cyperpunk-Zukunft, an der sich die frühe Begeisterung für das freie Web ablesen lässt. Heute verzichtet Kris Ligmans Twine-Arbeit »You are Jeff Bezos« (2018) auf einen poststrukturalistischen Theorieuntersatz und verdeutlicht eher in der Tradition marxistischen Agitprops die Kapitalverhältnisse von Big Tech, indem er die User didaktisch daran scheitern lässt, das Vermögen des Amazon-Gründers für wohltätige Zwecke auszugeben.23
Auch hängt die Attraktivität bestimmter Formen oft von der schlichten Verfügbarkeit ihrer technischen Voraussetzungen ab. SMS-Romane erscheinen angesichts der Ablösung durch andere Messaging-Dienste heute als unplausibel. Im Fall des proprietären Containerformats Shockwave bzw. Flash kam eine breit genutzte Gattung kinetisch-visueller Poesie allein deshalb zum Erliegen, weil Adobe das Format Ende 2020 einstellte. Viele zentrale Werke, wie Bas Böttchers »Looppool« (1998), sind seitdem nur noch mit einigem Aufwand über Emulatoren zu betreiben; manche Künstler*innen, wie Young-Hae Chang Heavy Industries, sind seit dem Ende von Flash dazu übergegangen, ihre Arbeiten als Videodateien zu reformatieren, wobei freilich medienspezifische Eigenheiten (etwa, nicht pausieren zu können) verloren gehen.24 Andreas Bülhoff zeigt in seinem Beitrag, dass es auch gestufte Inkompatibilitäten geben kann, wenn etwa das von Netscape eingeführte HTML-Tag »blink« in heutigen Browsern ignoriert wird.
Aber auch jene Textsorte, die im Vorgängerband als die avanciertere gepriesen wurde, weil sie technisch auf Augenhöhe mit dem Computer agiere und mit besonderer »digitaler Authentizität« ausgestattet sei, hat relativ wenig Spuren hinterlassen: »Codeworks« – der net.art-Bewegung der 1990er Jahre nahestehende Lyrik, die einer Programmiersprachenästhetik folgt.25 Mez Breeze etwa, eine ihrer Hauptvertreter*innen, hat sich heute auf VR-Narrative verlegt, die, statt der Konzentration auf codeartigen Text, komplexe technische Ansprüche an Herstellende und Lesende stellen. Damit bewegt sie sich nun im Randbereich zu jenen narrativen Games, die Dîlan Canan Çakir, Anna Kinder und Sandra Richter in diesem Band betrachten. Gleichwohl lassen sich Nachfolgephänomene zu Codeworks ausfindig machen, die, wie Bülhoff zeigt, das Spiel mit der Differenz zwischen Codierung und Darstellung aufnehmen und weiterführen, aber selten noch bewusst unter diesem Titel operieren.
Eine ähnliche Fortschreibung unter anderen Vorzeichen hat die Idee von gemeinschaftlichen Mitschreibeprojekten als besonders digitalaffiner Literaturpraxis erfahren.26 Sie sind in der Gegenwart weiterhin verbreitet, setzen allerdings, wie Annette Gilberts Beitrag ausführt, auf völlig anderen Prämissen und Praktiken auf. Ihr Selbstverständnis ist oft sehr viel pragmatischer als die avantgardistischeren Unternehmungen vor 20 Jahren. Wie gebrochen die Kontinuität zu diesen früheren Versuchen ist, zeigt bereits die Tatsache, dass das Bloggen, das erst Mitte der 2000er zur Blüte kam und inzwischen schon wieder nicht mehr als die Zukunft der Literatur gehandelt wird, im Band von 2001 noch gar nicht vertreten war.
Eine Konjunktur erlebt heute hingegen die älteste Gattung digitaler Literatur, das ›generative Schreiben‹ – literarische Texte, die durch die Ausführung von in formalisierten Programmiersprachen niedergelegten Algorithmen hergestellt werden. Ihre Geschichte ist heute gut aufgearbeitet und ihre klassischen Hauptwerke – von Christopher Stracheys »Love Letters« (1952) und Theo Lutz’ »Stochastischen Texten« (1956) über Alison Knowles’ und James Tenneys »A House of Dust« (1967) und Hans Magnus Enzensbergers Landsberger Poesieautomaten (1974/2000) bis zu Racters »The Policeman’s Beard is Half Constructed« (1984) – sind inzwischen vielfach gewürdigt und interpretiert worden.27 2001 hatte man sie gegen bloße »Bildschirmliteratur« in Stellung gebracht, da sie »die wirklich genuinen Eigenschaften des Mediums zum Einsatz (…) bringen«, also »im digitalen Medium und allein aus diesem heraus eine ganz eigene Literatur entwickeln«.28
Diese Erinnerung war seinerzeit vor allem deshalb nötig, weil die eher produktionszentrierte und daher für Laien schwer zu durchdringende generative Literatur durch die lesezentrierte und -freundliche hyper fiction an den Rand gedrängt wurde. Heute hat sich auch hier die Situation gewandelt. Die Verbreitung grundlegender Programmierfähigkeiten hat zugenommen und man kann geradezu einen Boom digitaler Literaturpraxis beobachten: Er drückt sich etwa im alljährlich im November stattfindenden »National Novel Generation Month« aus, bei dem per Skript ein ›Roman‹ (ein Text mit mindestens 50 000 Wörtern) zu generieren ist.29 Auch lässt sich von den Twitter-Bots der Gegenwart eine recht gerade historische Linie bis zu Strachey ziehen. Sie verfahren oft ebenso generativ wie sein auf Satzschablonen aufbauender Textgenerator und lassen sich – etwa mit Kate Comptons offenem Tool »Tracery«, Gregor Weichbrodts App »Plauder« oder der Seite cheapbotsdonequick.com30 – auch für Laien leicht programmieren. Kathrin Passig berichtet in ihrem Essay von solchen Bots und der Motivation, die hinter ihnen steht. Neben Passig, die auch einen eigenen künstlerischen Beitrag vorstellt, sind mit Jörg Piringer, Nick Montfort, Allison Parrish, Fabian Navarro und Selina Seemann fünf weitere Autor*innen in diesem Band vertreten, die diese ›genuin digitale Literatur‹ in der Gegenwart fortschreiben.
Reflexiv: Bezug auf das Digitale
Soweit die Einordnung digitaler Literatur in ihre historischen Linien, der sicher noch einige hinzuzufügen wären und die sich weiter ausdifferenzieren ließen. Sofern digitale Literatur aber auch darüber definiert werden kann, wie sie ihre eigene – technische wie soziale – digitale Bedingtheit reflektiert, lässt sich auch eine andere Systematisierung versuchen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit scheinen uns drei Idealtypen hervorzustechen: Die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Digitalen, die Verortung in digitalen Produktions- und Rezeptionsumgebungen und die Verarbeitung wesentlich auf der Prozess- und Codeebene.
Was man das ›digitale Inhaltsparadigma‹ nennen kann, begreift digitale Technik, Kultur und Gesellschaft vor allem als Gegenstand narrativer Schilderung. Im Gegenwartsroman, der im Beitrag von Elias Kreuzmair untersucht wird, lässt sich von einer Widerspiegelung der Realität mit besonderem Fokus auf der Digitalisierung unserer Lebenswelt in der Literatur sprechen, in der ihr mimetischer Grundzug zum Tragen kommt. Hier fließen Diskurse oder Realien der digitalen Welt als Inhalt in die Literatur ein, während die Erzählform auf bewusst literarische Traditionslinien setzt und die »Zukunft der Gegenwart« verhandelt.
Als das ›digitalsoziologische Paradigma‹ – dem man als Unterart das ›Plattform-Paradigma‹ zurechnen kann –