Rinpotsche Gonsar

Buddhas erste Unterweisung


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hat nichts mit seltsamen Ideen oder Phantasie zu tun. Richtige Anschauung bedeutet, ein richtiges Verständnis von Grundlage, Weg und Ziel zu haben. Was ist die grundlegende Situation der eigenen Person, der anderen Wesen und aller Dinge? Wie existieren wir? Was ist die Ursache für unsere Art des Bestehens, was sind ihre Umstände? Die grundlegende Situation der Wesen und der Dinge gilt es fehlerfrei zu erkennen. Als nächstes lernt man verstehen, wie auf der Grundlage unserer Situation der eigene Geist entwickelt werden kann. Diese Entwicklung ist der Weg, den man gehen will. Das Resultat, das wir dadurch erreichen, ist das angestrebte Ziel.

      Man entwickelt eine richtige Anschauung über die Grundlage, den Weg und das Ziel. Das reicht aber nicht aus. Der nächste Punkt, das richtige Verhalten, ist noch wichtiger. Welche geistigen und körperlichen Erfahrungen wir machen, ob leidvolle oder glückliche, hängt davon ab, was wir mit unserem Körper, unserer Rede und unserem Geist tun. Unsere Erfahrungen sind nicht das Resultat unserer Philosophie, sondern das Resultat unserer Handlungen von Körper, Rede und Geist. Alles, was wir erfahren, ist ein Resultat von Handlungen sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Deshalb ist das Wichtigste ein richtiges Verhalten. Wenn wir zwar einer richtigen Philosophie folgen, aber unser Verhalten negativ bleibt, dann hilft uns das nicht. Es ist unumgänglich, sich richtig zu verhalten. Richtiges Verhalten bedeutet nichts anderes, als negative Handlungen zu vermeiden und heilsame Handlungen mit Körper, Rede und Geist auszuführen.

      Auf der Grundlage einer richtigen Anschauung und eines richtigen Verhaltens ist es möglich, den dritten Punkt, richtige Meditation, anzuwenden. Richtige Meditation ist eine Methode, mit der die positiven Neigungen in unserem Geist entwickelt werden. Wir alle besitzen in unserem Geist positive Potentiale für Weisheit, Liebe, Erbarmen, Konzentration, Geduld und so weiter. Diese Potentiale zu entwickeln und vollkommen zu machen ist eine innere, geistige Arbeit, die als geistige Schulung bezeichnet werden kann. Eine richtige Meditation ist überaus wichtig, kann aber nur erreicht werden, wenn die ersten beiden Punkte als Grundlage vorhanden sind. Wenn die richtige Anschauung und das richtige Verhalten fehlen, gibt es keine wirkungsvolle geistige Schulung. Es ist ähnlich, wie wenn wir ein Haus bauen. Zunächst benötigt man einen Baugrund. Ohne Boden können wir kein Haus bauen. Richtiges Verhalten und richtige Anschauung sind wie ein Boden, auf dem wir mit Meditation aufbauen können. So müssen alle drei Punkte zusammengeführt werden; ein Punkt allein ist nicht genug.

      Der Kernpunkt des Buddhismus

      Bevor weitere Erklärungen gegeben werden, gilt es, noch eine wichtige Frage zu klären: Was ist der Kernpunkt des Buddhismus?

      Der Kernpunkt der Unterweisungen des Buddha ist weder Buddha selbst noch der Zustand der Erleuchtung, noch eine Gottheit, noch eine philosophische Anschauung oder Idee. Der zentrale Punkt des Buddhismus sind die fühlenden Wesen. Alles, was Buddha gelehrt hat, bezieht sich auf die Lebewesen. Alle Unterweisungen des Buddha, sowohl die Sutras als auch die Tantras, sind ausschließlich auf die Wesen ausgerichtet. Alle Erklärungen des Buddha beziehen sich auf ihre Situation, ihre Leiden, die Ursachen ihrer Leiden und auf die Befreiung von diesen Leiden bis zum Erlangen der Erleuchtung. Die verschiedenen Anwendungen, wie Ethik und Meditation, sind mit den Lebewesen verbunden. Das tragende Element der Ethik wie der gesamten Anwendung des Buddhismus ist das Erbarmen, das Mitgefühl. In diesem Zusammenhang wird immer wieder deutlich gemacht, dass die grundlegende Ethik des Buddhismus Ahimsa ist. Das bedeutet, wörtlich übersetzt, Schadlosigkeit. Darunter wird verstanden, alle Gedanken und Handlungen zu vermeiden, die anderen Lebewesen Schaden zufügen. Das ist die grundlegende Ethik. Alle weiteren Ebenen der buddhistischen Ethik beruhen auf dieser grundlegenden Ethik, keinem Wesen Schaden zuzufügen. So sind die ganze Philosophie ebenso wie alle Anwendungen des Buddhismus in dieser Weise einzig auf die Lebewesen ausgerichtet.

      Die Vier edlen Wahrheiten

      Die eigentliche Grundlage der Unterweisungen des Buddha findet man in seinen allerersten Unterweisungen. Buddha Schakyamuni ist eine von vielen Erscheinungen der Buddhas. Er erschien in dieser Welt, um diese Unterweisungen zu geben. Denn ein Buddha kann den Wesen den besten Nutzen geben, wenn er ihnen Unterweisungen gibt. Es gibt viele Arten, wie Buddhas den Wesen von Nutzen sein können, die wirkungsvollste ist jedoch das Zeigen des richtigen Weges.

      Gemäß den Voraussetzungen, Neigungen und Notwendigkeiten der Schüler hat Buddha eine große Zahl unterschiedlicher Unterweisungen gegeben. Die allerersten Unterweisungen des Buddha sind die Unterweisungen über die Vier edlen Wahrheiten. Nachdem Buddha die volle Erleuchtung erlangt hatte, gab er diese Unterweisungen seinen ersten fünf menschlichen Schülern im Wald von Sarnath.

      Diese vier edlen Wahrheiten sind nicht nur die ersten Unterweisungen des Buddha, sondern auch die Grundlage aller seiner Unterweisungen ebenso wie die Essenz aller seiner Unterweisungen. Es sind das die Unterweisungen, in denen die Bedeutung aller weiteren Unterweisungen des Buddha enthalten ist. Alle vielfältigen Aspekte der Unterweisungen des Buddha wie das Kleine Fahrzeug, das Große Fahrzeug oder das Fahrzeug der Tantras sind in den Vier edlen Wahrheiten enthalten. Und im Besonderen sind diese Vier edlen Wahrheiten Unterweisungen, die für gewöhnliche Personen wie uns sehr zutreffend sind. Denn diese Unterweisungen beginnen mit einer Beschreibung des Zustandes, in dem wir gewöhnlichen Wesen uns befinden. Sie haben so eine direkte Beziehung zur Wirklichkeit und sind eine direkte Beschreibung unserer eigenen grundlegenden Wirklichkeit und in keiner Weise eine abstrakte Phantasie.

      Was sind nun diese Vier edlen Wahrheiten? Diese werden im Allgemeinen bezeichnet als:

      - die edle Wahrheit des Leids,

      - die edle Wahrheit des Ursprungs,

      - die edle Wahrheit der Beseitigung und

      - die edle Wahrheit des Weges.

      Buddha gab diesen Unterricht in der Weise, dass er zuerst diese Wahrheiten als Einführung aufzählte. Er sagte:

      Dies ist die edle Wahrheit des Leids,

       dies ist die edle Wahrheit des Ursprungs des Leids,

       dies ist die edle Wahrheit der Beseitigung, und

       dies ist die edle Wahrheit des Wegs zu dieser Beseitigung.

      Dann wiederholte Buddha diese vier edlen Wahrheiten, indem er sagte:

      Erkenne das Leid,

       überwinde die Ursachen des Leids,

       erlange die Beseitigung,

       und wende den Weg an.

      Diese Worte beschreiben einerseits die Situation, in der wir uns befinden, und zeigen zudem die Lösung für die Probleme unserer Situation.

      Die edle Wahrheit des Leids

      Buddha sagte:

      Dies ist die edle Wahrheit des Leids!"

      Er sagte nicht:

      "Jenes ist die edle Wahrheit des Leids" oder

      "Dort drüben ist die edle Wahrheit des Leids".

      Das bedeutet, Buddha zeigt auf uns und sagt:

      "Dies ist die edle Wahrheit des Leids".

      Sie existiert also nicht irgendwo anders, befindet sich nicht irgendwo im Raum, sondern beschreibt die eigentliche Art und Weise, in der wir bestehen. Denn im gegenwärtigen Moment leben wir in einer Weise, in der wir vollständig an Leiden gebunden sind; was nicht heißen soll, dass wir ständig Schmerzen oder tiefe Trauer erfahren. Diese Aussage hat eine sehr tiefe und breite Bedeutung. Denn die Leiden, die wir erfahren, bestehen nicht nur aus unangenehmen Empfindungen, sondern es gibt viele weitere Stufen von Leid.

      Buddha hat die Gesamtheit der Leiden, die wir erfahren, in drei Gruppen eingeteilt. Diese werden genannt:

      - Leid der Schmerzen,

      - Leid des Wechsels und

      - alles umfassendes Leid.

      Im gegenwärtigen Moment leben wir mit allen diesen drei Arten von Leid. Wir leben zwar mit diesen drei Arten von Leid,