Eia Asen

Kinder im Kreuzfeuer


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existieren, die erklären sollen, warum Kinder sich auf die Seite eines Elternteils schlagen und den anderen ablehnen. Der Begriff »zu rechtfertigende Entfremdung« (siehe Bala a. Hebert 2016; Whitcombe 2017) wurde geprägt zu dem Zweck, die »verständliche Zurückweisung« eines misshandelnden oder vernachlässigenden Elternteils durch sein Kind zu charakterisieren. Von »hybriden Fällen« wird gesagt, sie würden »Entfremdung« und »zu rechtfertigende Entfremdung« kombinieren, um die Zurückweisung eines Elternteils zu legitimieren (Friedlander a. Walters 2010). Andere Begriffe und Konzepte wie »Ausgrenzung von Familienmitgliedern« (Scharp a. Dorrance 2017) und »kontraproduktives schützendes Elternverhalten« (Drozd a. Williams Olesen 2004) oder unfaire Verunglimpfung eines Elternteils durch den anderen werden ebenfalls zur Beschreibung dessen, was dazu geführt hat, dass ein Kind einen Elternteil nicht sehen will, benutzt. Kelly und Johnston (2001) haben versucht, das »Elternentfremdungssyndrom (PAS)« umzuformulieren und sich auf das »entfremdete Kind« zu konzentrieren, und in diesem Zusammenhang haben sie untersucht, warum und wie die Beziehungen von Kindern zu ihren Eltern nach deren Trennung beeinflusst werden. Das Konzept der »unversöhnlichen Feindseligkeit« (Sturge a. Glaser 2000) ist ein weiterer Versuch, die starke und nicht nachlassende Feindseligkeit zu erfassen, die oft zwischen dem Elternteil, dem das Sorgerecht für das Kind zugestanden worden ist, und dem anderen Elternteil besteht. Das letztgenannte Konzept hat insofern Schwächen, als man denken könnte, es würde implizieren, dass es unmöglich wäre, die Situation zu verbessern – was davon abhalten könnte, veränderungsfördernde Interventionen auch nur auszuprobieren.

      Es wurde und wird weiterhin viel darüber diskutiert, ob Elternentfremdung tatsächlich ein Syndrom ist (siehe hierzu beispielsweise Andre 2004; Bernet et al. 2010; Rand 2011; Gottlieb 2012; Baker et al. 2016; Cantwell 2018). Nach unserer Auffassung hat das Konzept der Entfremdung zwar einige Vorzüge, aber andererseits auch Grenzen, da es einen in eine Richtung verlaufenden linearen und kausalen Prozess postuliert, der bewirken soll, dass sich Kinder in die verbitterte Beziehung ihrer Eltern hineingezogen fühlen und aufgrund dessen einem Elternteil gegenüber eine Abneigung entwickeln. Zwar erkennen wir an, dass in sehr extremen Fällen ein Elternteil bei der Unterminierung der Beziehung eines Kindes zum anderen Elternteil die treibende Kraft ist, doch sind in den meisten Fällen umfassendere und komplexere Dynamiken – wie »Triangulierungsprozesse« und Loyalitätskonflikte – im Spiel, die ein differenzierteres Verständnis und entsprechende Formulierungen erfordern.

      Fidler und Bala (2010) zitieren zahlreiche Studien, die potenziell negative Auswirkungen von Entfremdungsprozessen auf die betroffenen Kinder thematisieren. Dabei kann es um folgende Aspekte gehen:

      •Mängel der Realitätsprüfung

      •unlogische kognitive Operationen

      •übermäßig vereinfachende und starre Informationsverarbeitung

      •unzutreffende oder verzerrte interpersonale Wahrnehmungen

      •gestörte und beeinträchtigte interpersonale Funktionsfähigkeit

      •Selbsthass

      •schwaches oder übertrieben starkes Selbstwertgefühl oder sogar Allmachtsgefühle

      •Pseudoreife

      •Probleme hinsichtlich der Geschlechtsidentität

      •Schwierigkeiten mit Grenzziehungen, wie z. B. »Verstrickung«

      •Aggression und Störungen des Sozialverhaltens

      •Ablehnung von sozialen Normen und Autoritäten

      •mangelnde Impulskontrolle

      •emotionale Einengung, Passivität oder Abhängigkeit

      •Mangel an Reue oder Schuldgefühlen.

      Retrospektive qualitative Untersuchungen an Erwachsenen, die in ihrer Kindheit Entfremdungsprozessen ausgesetzt waren, stehen mit den beschriebenen Erkenntnissen in Einklang (Baker 2007; Verrocchio et al. 2018). Die meisten Betroffenen berichten, sie könnten sich zwar deutlich daran erinnern, in ihrer Kindheit erklärt zu haben, sie hassten oder fürchteten den zurückgewiesenen Elternteil und hätten oft negative Gefühlen ihm gegenüber gehabt, hätten sich aber nicht gewünscht, dass er sich seinerseits von ihnen distanziert hätte, und hätten sogar insgeheim gehofft, irgendwann wäre jemandem klar geworden, dass sie das tatsächlich Gesagte nicht so gemeint hätten. Diese Erkenntnisse sind keineswegs neu, denn schon vor fast drei Jahrzehnten berichteten Clawar und Rivlin (1991), 80 % der Kinder ihrer Stichprobe hätten erklärt, sie wünschten sich, der Entfremdungsprozess werde entdeckt und gestoppt.

      Dem Family-Ties-Modell gemäß ist der Prozess des Hineingezogenwerdens der Kinder in anhaltende elterliche Konflikte – die »Triangulierung« – der Grund für die spezielle Art von Beziehungen, die man in Familien vorfindet, in denen nach der Trennung der Eltern starke Konflikte bestehen bleiben. Im Gegensatz zum psychoanalytischen Konzept der »frühen Triangulierung« (Abelin 1975) handelt es sich bei systemisch begründeten Triangulierungsprozessen darum, dass Kinder in die Streitigkeiten von Erwachsenen hineingezogen werden und aufgrund dessen zusammen mit einem Elternteil eine problematische Allianz gegen den anderen Elternteil entwickeln. Das ist keineswegs ein neues Konzept, denn schon Bowen (1966) beispielsweise spricht von der »pathologischen Triangulierung«: einer generationenübergreifenden Koalition, in der ein Elternteil das Kind als Vertrauensperson benutzt und den anderen Elternteil ausschließt und herabwürdigt. Das »perverse Dreieck« (Haley 1985) ist eine weitere Beschreibung des Prozesses, wie ein Elternteil sein Kind für ein verdecktes Bündnis vereinnahmt, um den anderen Elternteil zu isolieren; dadurch gerät das Kind in eine »No-win«-Situation, in der die Einwilligung in die Wünsche des einen Elternteils den Verlust der Liebe des anderen nach sich zieht. Selvini Palazzoli et al. (1992) beschreiben spezielle »Familienspiele«, denen Kinder und Jugendliche zum Opfer fallen und die schwerwiegende psychische Störungen verursachen können. Boszormenyi-Nagy und Spark (1973) verweisen auf die »unsichtbaren Loyalitäten« und die »Rollenkorruption«, die Kinder in Szenarien dieser Art erleiden und welche oft zu den von Minuchin (1977) so genannten »dysfunktionalen Machthierarchien« und »verstrickten« Eltern-Kind-Beziehungen führt. In Szenarien dieser Art befinden sich Kinder verstärkt in Gefahr, »adultifiziert«, »parentifiziert« oder »infantilisiert« zu werden (Garber 2011).

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      Triangulierung beinhaltet drei unterschiedliche und einander überschneidende Distanzierungs- und Entfremdungsprozesse, die man zum Verständnis grafisch repräsentieren (siehe Abbildung 1.1) und auch therapeutisch nutzen kann, um die verschiedenen eigenen Sichtweisen jedes Elternteils und des Kindes darzustellen. Die Distanzierung eines Elternteils vom Kind ist der erste dieser Prozesse, den man mit dem Ausmaß in Verbindung bringen kann, in dem der eine Elternteil die laufende Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil unterstützt. Eltern, die trotz ihrer Wut oder Aufgebrachtheit dem früheren Partner gegenüber die Beziehung ihres Kindes zum anderen Elternteil bedingungslos unterstützen, sind am einen Ende eines Spektrums zu positionieren, auf dem sich auch die indirekte und unbeabsichtigte Unterminierung dieser Beziehung verorten lässt und an dessen entgegengesetztem Ende die absichtliche, permanente und konsistente Unterminierung der Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil und dessen Herabwürdigung zu lokalisieren ist. Ein zweiter Faktor, der zur Triangulierung beiträgt, ist das Ausmaß, in dem das Kind dem elterlichen Konflikt ausgesetzt ist und in ihn einbezogen wird. Am einen Ende des Spektrums kann das Kind völlig von den Konflikten seiner Eltern abgeschirmt sein, während es am anderen Ende des Spektrums permanent den feindseligsten Interaktionen seiner Eltern ausgesetzt ist und oft direkt in ihre Dispute verwickelt wird.

      Ein dritter Triangulierungsfaktor, der zu Distanzierungs- und Entfremdungsprozessen beiträgt, betrifft die tatsächliche physische und emotionale