Bernhard Heinzmaier

Generation Corona


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schwierig, aber jetzt bin ich Instructor bei Amazon.“

      Was wir hier vorgeführt bekommen, ist ein Paradebeispiel für das Agieren des sogenannten Progressiven Neoliberalismus. Einerseits wird das gegenwärtig moralisch hoch aufgeladene Thema der Anerkennung von diskriminierten Randgruppen in einem kaum mehr an Pathos zu überbietenden Stil aufgegriffen, während der Konzern sich zur selben Zeit gegen Flächentarifverträge ausspricht und gewerkschaftliche Arbeit behindert. Amazon schmückt sich mit seinem Engagement für benachteiligte Gruppen, während das Unternehmen gleichzeitig die Ausbeutung der Arbeitnehmer:innen mehr denn je auf die Spitze treibt. Während Propaganda für die postmodernen Anerkennungs- und Identitätspolitiken gemacht wird, die besonders bei den kaufkräftigen urbanen Lifestylelinken gut ankommen, wird die Ausbeutung der Arbeiter:innen und der Mittelklasse weiter betrieben und alles getan, um die immer größer werdende soziale Ungleichheit unangetastet zu lassen und das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit aufrechtzuerhalten.

      Zudem atmet die Anzeige das Flair des kleinbürgerlichen Familienideals, gut abgemischt mit liberaler Wettbewerbsideologie und der Idealisierung der konformistischen Anpassung an das neofordistische Ordnungsregime in den Distributionszentren des Monopolunternehmens. Der erstaunten Öffentlichkeit wird eine fortschrittliche Fassade präsentiert, hinter der eine verstaubte kleinbürgerliche Werteordnung, neoliberaler Anpassungsdruck und unsolidarischer Wettbewerb munter weiterexistieren.

      Die Anzeige verdreht zudem in einer impertinenten Manier die innerbetrieblichen Realitäten, indem sie von einer „Betriebsgemeinschaft“ erzählt, in der sich die Einzelnen geborgen fühlen können, ein Narrativ, welches der Realität des autoritär geführten innerbetrieblichen Kontroll- und Konkurrenzregimes des Unternehmens, das von autoritären Vorarbeiter:innen und ehemaligen Armeekadern beherrscht wird, diametral entgegengesetzt ist.

      Die Amazon-Mitarbeiter:innen erleben die Betriebskultur des Konzerns dementsprechend auch völlig anders. Spricht man mit ihnen, dann ist von digitaler Überwachung die Rede, die die Belegschaft disziplinieren soll, von einer Atmosphäre, in der sich alle ständig beobachtet und unter Beschleunigungsdruck gesetzt fühlen. Hier zeigt sich deutlich die zutiefst widersprüchliche und gespaltene Welt eines Unternehmens des progressiven Neoliberalismus, welches einerseits die Lohnarbeiter:innen ausbeutet und unter Kontrolldruck setzt, wo es nur geht, und auf der anderen Seite linksliberale Anerkennungspolitiken dort unterstützt, wo sie Profit-Logik und Herrschaftsstrukturen des liberal-kapitalistischen Ausbeutungssystems nicht tangieren. Kaltschnäuzig hat Amazon in seiner Anzeige das Flüchtlingselend für die Aufrichtung einer humanitären Imagefassade missbraucht, hinter der sich eine gewerkschafts- und tarifvertragsfeindliche Unternehmenskultur verbirgt.

      Die Regierungen und die transnationalen Strukturen unserer Zeit betreiben immer unverhohlener eine Politik im Interesse der Konzerne. Besonders offensichtlich wird das anhand der Umgestaltung des Bildungssektors in eine verlängerte Werkbank der neoliberalen Wirtschaft. Es werden Bildungskonzepte umgesetzt, die sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen, ihrem Interesse an Persönlichkeits- und Selbstbildung, und schon gar nicht an den Grundsätzen einer kritischen Pädagogik orientieren, die jungen Menschen Werkzeuge für ein gesellschaftskritisches Denken an die Hand gibt. Im Gegenteil, nun geht es in Schulen und Universitäten nur mehr um praxistaugliche Fertigkeiten und wirtschaftlich verwertbare Kompetenzen. Die Menschen, die sie eingetrichtert bekommen, sollen zu funktionstüchtigen und konformistischen Rädchen im Getriebe des neoliberalen Wirtschaftssystems erzogen werden.

      Die Umstellung des schulischen und universitären Unterrichts auf digitale Wissensvermittlung in Corona-Zeiten hat die Entfremdung, Entmündigung und politische Passivierung der Schüler:innen und Studierenden zusätzlich verstärkt. Erlebte man früher in den Schulklassen und Hörsälen wenigstens ab und zu noch lebhafte und kontroverse Debatten über die großen Themen unserer Zeit wie Klimawandel, soziale Ungleichheit, Massenarbeitslosigkeit, Islamismus oder die Monopolisierung der Medien, so sind diese in der Zeit der virtuellen Schulen und Universitäten nahezu ausgestorben. Die Studierenden sitzen mit abgeschalteten Mikrofonen und Kameras an ihren PCs oder auch nicht, Einwände oder sogar Rückfragen kommen selten, diskutiert wird nie. Die Generation Corona lernt gerade in den Bildungseinrichtungen, alles stillschweigend hin- und aufzunehmen, was Lehrerschaft, Politik, Wirtschaft und Medien ihnen vorsetzen.

      Zugleich scheinen jegliche Begeisterung und Leidenschaft für Bildung bei der überwiegenden Anzahl der Studierenden an den Universitäten verloren gegangen zu sein. Sie sind trainiert auf das Sammeln von ECTS-Punkten, und die werden mitgenommen, wo immer sich eine günstige Gelegenheit bietet. Wie im Kapitalismus generell, geht es auch in den Bildungseinrichtungen heute darum, mit möglichst geringen Investitionen möglichst große Erträge zu erwirtschaften. Wie im Supermarkt ist man auch an den Universitäten und Fachhochschulen permanent auf der Jagd nach dem Schnäppchen. In den Bildungseinrichtungen gehen die jungen Smart-Shopper um, die, egal was im Angebot ist, primär nach dem Preis-Leistungsverhältnis entscheiden. Gesucht werden billige Scheine von lockeren Dozent:innen, die die Notengebung leger handhaben, egal, was auch immer in den Lehrveranstaltungen angeboten wird. Die ECTS-Punkte kommen vor dem Inhalt.

      In den Schulen und an den Universitäten erleben wir das Wiederauferstehen des progressiven Lehrers der 1960er und 1970er Jahre, der mit dem Motorrad vor der Schule vorfuhr, mit Lederjacke und gepflegten langen Haaren, sich ständig mit den Autoritäten anlegte und immer lässig ein Büchlein von Alexander S. Neill bei sich trug. Diese Lehrertypen standen immer an der Seite der Schüler:innen, ließen sich gerne duzen und galten im Kollegium als unkonventionell. Unter der Oberfläche der rebellischen Fassade verbarg sich jedoch in der Regel ein braver Familienvater, der sozialdemokratisch wählte und den Katholikentag besuchte. Viele dieser politisch, sozial und vor allem emotional kastrierten James-Dean-Typen schlossen sich später den Grünen an, einer Partei, die, wenn es um substantielle Dinge wie Ausbeutung durch Lohnarbeit, Elitenherrschaft, imperialistische Kriegspolitik und kulturindustrielle Manipulation geht, völlig systemkonform agiert, in ihren programmatischen Äußerungen aber mit größtem Pathos ein Weltideal propagiert, in dem Mensch und Natur im harmonischen Einklang, wie in den Schäferidyllen der Romantik, zwanglos, ruhig und entschleunigt friedlich koexistieren. Diese naive Fantasie entspringt entweder dem schlichten Gemüt der handelnden Parteiexponent:innen oder ist eine ganz perfide und verlogene Kommunikationsstrategie von Politikberater:innen und PR-Strateg:innen, um leichtgläubige Menschen zur Stimmabgabe für die Ökopartei zu verführen.

      In der realen Welt ist das menschliche Leben „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung der Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung“ (Nietzsche 2018: 61). Wer unter solchen Bedingungen, die vom Willen zur Macht aller Beteiligten geprägt sind, achtsam, mitleidig, solidarisch, vertrauensvoll und überströmend vor Liebe zu allen Menschen durch die Welt geht, hat eine gute Chance, am Ende tatsächlich zu den Opfern und Verlierer:innen des neoliberalen Konkurrenzsystems zu gehören und im Plattenbau Tür an Tür mit „Psycho Andreas“ aus der Sendung Frauentausch zu landen.

      Die grünen Parteien waren immer dem „Wilden auf seiner Maschine“ ähnlich, einer Figur aus den Liedern des Wiener Kabarettisten und Schauspielers Helmut Qualtinger, der mit höchster Geschwindigkeit unterwegs ist, aber nicht weiß, wo er tatsächlich hinwill, dafür aber schneller dort sein möchte. Im wahrsten Sinne des Wortes war ihm der Weg das Ziel.

      Wie die Grünen. Sie quellen über vor Emotionen, beschreiben theatralisch die gemeinschaftliche und nachhaltige Lebenswelt, die die Zukunft für uns bereithält; wie sie uns dort aber hinbringen wollen, erfahren wir nicht, weil sie dafür keinen Plan haben, ja, nicht einmal wissen, was und wo ihr Ziel ist und ob es das überhaupt gibt. Sie sind wie Utopist:innen, die sich selbst an ihren eigenen Idealen erhitzen, aber insgeheim nicht einmal selbst ehrlichen Herzens an ihre hochfliegenden Vorstellungen glauben.

      Der Motor der grünen Maschine läuft durchgehend im höchsten Drehzahlbereich, nur bleibt er unverbunden mit dem Getriebe. Man hütet sich davor, den Gang einzulegen, weil man keine Ahnung vom Weg hat, der ins gelobte Land führt, und zudem nicht den Mut, das kapitalistische System, das die Grundursache aller Krisen unserer Zeit ist, infrage zu stellen.

      Und selbst kleine Vorhaben, die man vielleicht im Stillstand