wirtschaftlichen Booms der Nachkriegszeit zu. Da soziale und wirtschaftliche Entwicklungen den nationalen Rahmen häufig sprengen, verstärkte man ebenfalls die Beschäftigung mit der Geschichte anderer Länder und Nationen (Prinzip der Internationalität).
[34]Seit den 1990er Jahren erfuhr die Sozialgeschichte Kritik von Seiten einer geschichtswissenschaftlichen Strömung, die als Neue Kulturgeschichte bezeichnet wird und heute die als am ›fortschrittlichsten‹ geltende Form von Geschichtswissenschaft bildet. Die Neue Kulturgeschichte verstärkte die Globalisierungsbestrebungen und untersucht transnationale historische Phänomene, internationale Netzwerke und länderübergreifende Migrationsbewegungen sowie Kulturtransfers. Sie entdeckte unter dem Begriff Agency das historisch handelnde Individuum wieder, fasst es aber nicht wie der Historismus als ›historische Persönlichkeit‹, sondern widmet sich mit besonderem Interesse seiner Weltdeutung und Wahrnehmung. Nicht mehr die Ereignisse stehen im Zentrum der Untersuchungen, sondern die Wahrnehmungen und Deutungen der Zeitgenossen, wie sie sich in Texten, aber auch auf Karten, Gemälden oder sonstigen Ausdrucksformen findet, in denen Geschichte ›verarbeitet‹ wurde (Doing History). Damit gewann die Untersuchung von Begriffen und Diskursen sowie von Ritualen und Repräsentationsformen besondere Bedeutung.
Dass gleichzeitig auch neuer Schwung in quantifizierende Verfahren und den Umgang mit seriellen Daten kam, ist auf die Digital Humanities zurückzuführen, die inzwischen in fast allen größeren Universitäten mit Professoren- und Mitarbeiterstellen vertreten sind. Auf eine erste Phase, in der v. a. Texte digitalisiert und im Internet veröffentlicht wurden, folgte eine zweite Phase, in der Quellen- und Informationsangebote tiefenerschlossen und individueller handhabbar gemacht wurden. Das eröffnete der Forschung neue Fragestellungen, etwa zu sozialen Netzwerken oder [35]zu Migrationsbewegungen. Neue Visualisierungstechniken machen Ergebnisse zudem anschaulicher und sind ebenfalls forschungsanregend.
Iggers, Georg G. [u. a.]: Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute. Göttingen 2013.
Jaeger, Friedrich / Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992.
Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn 42018.
Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 22010.
Woolf, Daniel: A Global History of History. Cambridge 2011.
– A Concise History of History. Global Historiography from Antiquity to the Present. Cambridge 2019.
3.2. Teilbereiche der Geschichtswissenschaft
Der ursprüngliche Anspruch, Geschichte als Universalgeschichte zu betreiben, trat in dieser Entwicklung immer mehr zurück. Dafür etablierten sich Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft, nach denen heute häufig (universitäre) Institute, Lehrstühle und Forschungsschwerpunkte benannt sind. Man spricht von einer epochalen, einer sektoralen und einer regionalen (geographischen) Untergliederung der Geschichtswissenschaft.
Übergreifende Literatur zum Folgenden:
Cornelißen, Christoph (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt a. M. 42009.
[36]Eibach, Joachim / Lottes, Günther (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Göttingen 22006.
Goertz, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 32007.
Jordan, Stefan (Hrsg.): Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2019. (Reclams Universal-Bibliothek.) [Zuerst 2002 u. d. T.: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe.]
Maurer, Michael (Hrsg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003. (Reclams Universal-Bibliothek.)
3.2.1. Epochal strukturierte Teilbereiche der Geschichtswissenschaft
Die traditionelle Unterteilung der Geschichtswissenschaft ist die in epochale Wissenschaftsbereiche. Sofern in der betreffenden Fakultät die Disziplinen Archäologie, Vor- oder Ur- und Frühgeschichte nicht angeboten werden, ist die epochale Disziplin, die am weitesten zeitlich zurückreicht, die Alte Geschichte (Geschichte des Altertums). Auf sie folgt die Mittelalterliche Geschichte (Mediävistik), danach die Geschichte der Neuzeit.
Die Disziplin Alte Geschichte umfasst üblicherweise die Erforschung der Zeit vom Beginn der griechischen Schriftlichkeit bis zur Auflösung des römischen Weltreichs. Sie ist im Wesentlichen auf die abendländische Antike und daher auf das heutige Europa, Teile Vorderasiens und Nordafrikas beschränkt. Sofern mehrere Professuren für Alte Geschichte in einer Fakultät vorhanden sind, teilen diese sich meist auf in Griechische Geschichte (von Homer bis zum Hellenismus) und Römische Geschichte (von der Gründung Roms bis zur Völkerwanderung).
[37]Blum, Hartmut / Wolters, Reinhard: Alte Geschichte studieren. Konstanz 22011.
Günther, Rosmarie: Einführung in das Studium der Alten Geschichte. Paderborn [u. a.] 2001.
Leppin, Hartmut: Einführung in die Alte Geschichte. München 22015.
Vollmer, Dankward: Alte Geschichte in Studium und Unterricht. Eine Einführung mit kommentiertem Literaturverzeichnis. Stuttgart 1994.
Zeitlich an die Alte Geschichte schließt sich die Mittelalterliche Geschichte an, die den Zeitraum bis etwa zur Reformation umfasst und i. d. R. ebenfalls auf Europa (das lateinische Mittelalter) begrenzt ist. Auch hier gibt es weitere zeitliche Unterteilungen, von denen die gebräuchlichste die in Frühes Mittelalter (etwa 800–1050), Hohes Mittelalter (etwa 1050–1300) und Spätes Mittelalter (etwa 1300–1500) ist.
Boockmann, Hartmut: Einführung in die Geschichte des Mittelalters. München 82007.
Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter. Stuttgart 42014.
Hartmann, Martina: Mittelalterliche Geschichte studieren. Konstanz 42017.
Heimann, Heinz-Dieter: Einführung in die Geschichte des Mittelalters. Stuttgart 22006.
Hilsch, Peter: Das Mittelalter – die Epoche. Konstanz 42017.
Die Behandlung der Zeit vom Ende des Mittelalters bis zur Gegenwart ist das Aufgabengebiet der Geschichte der Neuzeit. Zu dieser Disziplin gibt es die meisten Professuren und kleinere zeitliche Unterteilungen.
[38]Als Geschichte der Frühen Neuzeit versteht man die Untersuchung des Zeitraums vom Ausgang des Mittelalters bis zur Französischen Revolution (1500–1800). Innerhalb der Frühen Neuzeit werden mitunter der Zeitabschnitt der Religionskriege oder Konfessionelles Zeitalter (1500–1650) und die Sattelzeit (1750–1850) als eigenständige Periodisierungen behandelt. Dieser Einteilung liegen bestimmte wissenschaftliche Thesen zugrunde: dass die durch die Reformation ausgelösten Konflikte nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs im Jahr 1648 in eine neue europäische Friedenslösung mündeten bzw. dass um 1750 eine Transformationsphase einsetzte, in der sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Moderne herausbildete und in der viele Begriffe unserer heutigen politisch-sozialen Sprache geprägt wurden (z. B. Demokratie, Staat, Gesellschaft).
Emich, Birgit: Geschichte der Frühen Neuzeit studieren. Konstanz 22019.
Völker-Rasor, Anette (Hrsg.): Frühe Neuzeit. München 32010.
Vocelka, Karl: Frühe Neuzeit 1500–1800. Konstanz 32020.
Hieran schließt sich die Neuere Geschichte an, worunter im Kern das ›lange 19. Jahrhundert‹ verstanden wird, jener Zeitraum also, der von 1789 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs dauerte. Auch mit dieser Periodisierung ist eine These verbunden: dass die Französische Revolution (und die Aufklärung) und der Erste Weltkrieg entscheidende