Martin Grassberger

Das unsichtbare Netz des Lebens


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Anfang an als Eltern und als Gesellschaft positiv zu beeinflussen, indem wir diese neuen Erkenntnisse mit besonderer Sorgfalt auf die Schwangerschaft und die Jahre der Kindheit anwenden.

       Die ersten tausend Tage

      Die ersten tausend Lebenstage – die Zeitspanne zwischen der Empfängnis und dem zweiten Geburtstag – sind der kritische Zeitraum schlechthin, in dem ein beträchtlicher Teil (ca. 50 Prozent, wie wir gesehen haben) von Gesundheit, Wachstum und neurologischer Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg »programmiert« wird. Das ist derzeit weitgehender wissenschaftlicher Konsens. Zahlreiche Programme von Non-Profit-Organisationen, von der UNICEF bis zur Gemeindeebene, nennen daher ihre Kampagnen zur Verbesserung der globalen Situation »The first 1000 Days«.

      Besondere Aufmerksamkeit hat neben der richtigen Ernährung der Mutter auch das Stillen erlangt. Aufgrund der nachgewiesenen positiven Auswirkungen des Stillens auf die Gesundheit und das Überleben von Kindern empfehlen führende Gesundheitsverbände, darunter die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die American Academy of Pediatrics (AAP), dass Babys in den ersten sechs Monaten ausschließlich (!) gestillt werden sollten (ohne jegliche Zufütterung). Die WHO empfiehlt zudem, dass Babys selbst bei Zufütterung mindestens 24 Monate lang weiter gestillt werden sollten, da dies sowohl Mutter als auch Kind die größten gesundheitlichen Vorteile bietet. Bisher fehlt allerdings vielen Müttern die oft nötige Unterstützung, um diese Empfehlungen umsetzen zu können. Infolgedessen können sie und ihre Kinder die außergewöhnlichen gesundheitlichen Vorteile des Stillens nicht nutzen. Warum Stillen so außerordentlich wichtig ist und welche erstaunlichen Mechanismen hinter der gesundheitsfördernden Wirkung stehen, werde ich später noch erläutern.

      Und noch eine ganz wichtige Einsicht – die Notwendigkeit zu politischem Handeln – lässt sich aus oben Gesagtem ableiten. Gesellschaftliche und sozioökonomische Ungleichheit bzw. Ungerechtigkeit sind die stärksten allgegenwärtigen Determinanten für eine negative gesundheitliche Entwicklung in jeder menschlichen Gesellschaft auf der Erde. Einfach ausgedrückt, hat ein Kind, das in Armut aufwächst, im Erwachsenenalter eine bedeutend schlechtere Gesundheit als ein Kind, das nicht in Armut aufwächst.29

      In dieser wissenschaftlich begründeten Tatsache liegt – gerade in unserer modernen Gesellschaft – allerdings auch unsere große Chance, den Teufelskreis von Armut und schlechter Gesundheit zu durchbrechen. Die über Jahrzehnte einzusparenden gesellschaftlichen und ökonomischen Kosten wären nämlich enorm. Bereits der berühmte Afroamerikaner Frederick Douglass (1817–1895), ehemaliger Sklave und späterer Schriftsteller, bemerkte: »Es ist einfacher, starke Kinder heranzuziehen, als gebrochene Männer zu reparieren.« Kostengünstiger ist es obendrein.

       Wenn es bereits zu spät ist

      In zahlreichen Fällen ist es allerdings zu spät, um präventive Maßnahmen zu setzen, da der Schaden bereits eingetreten ist. Glücklicherweise kennen wir aber verschiedenste Interventionen und Maßnahmen, um den späteren negativen Gesundheitsfolgen entgegentreten zu können. Die epigenetischen Erbgutmodifikationen einer negativen »Programmierung« sind keinesfalls absolut irreversibel, sondern lassen sich bis zu einem gewissen Grad zeitlebens positiv beeinflussen.

       Gesunde Beziehungen

      Zahlreiche Studien haben die Schutzfunktion einer sicheren emotionalen Bindung zu einer Bezugsperson und ihren positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern gezeigt.30 Umgekehrt hat sich aber auch gezeigt, dass mangelnde soziale Integration und Unterstützung ein größerer Risikofaktor für eine frühere Sterblichkeit im Erwachsenenalter ist als Rauchen, Alkoholkonsum und körperliche Inaktivität.31 Die gute Nachricht ist, dass die positive Schutzwirkung einer frühen sozialen Integration ebenso dosisabhängig ist wie die negativen Gesundheitsfolgen von frühkindlichen Ereignissen.32

       Gesunder Schlaf

      Wie ich später noch ausführlich erläutern werde, sind eine verminderte Schlafdauer und eine schlechte Schlafqualität sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern für zahlreiche Gesundheitsprobleme und Krankheiten bis hin zu einem verfrühten Tod verantwörtlich.33 Es liegt daher nichts näher, als für eine regelmäßige Schlafroutine und ausreichende Schlafdauer bereits ab der frühen Kindheit zu sorgen. So kann das (Vor)Lesen von Büchern und eine Begrenzung der Bildschirmzeit vor dem Schlafengehen erheblich zur Förderung der Schlafhygiene beitragen und im Falle des Vorlesens darüber hinaus die erwähnten sozialen Bindungen stärken sowie die kindliche Entwicklung (Fantasie) anregen.

       Gesunde Ernährung

      Eine dauerhafte stressbedingte Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse und die resultierende Cortisolfreisetzung scheinen eine langfristige Überlebensstrategie des Köpers zu aktivieren. Das bei gestressten Menschen zu beobachtende gesteigerte Bedürfnis nach kalorien- und fettreichen Nahrungsmitteln dürfte aus evolutionärer Sicht dazu dienen, ausreichend Reserven für die nächsten bevorstehenden Stressoren zu haben. Zudem haben viele Menschen gelernt, sich durch Zucker- und Fetthaltiges vermeintlich zu »beruhigen«. Ein Teufelskreis.34

      Stress hat aber nicht nur Einfluss auf unser Ernährungsverhalten, sondern auch eine gesunde Ernährung kann, über die Modulation unseres Darmmikrobioms, umgekehrt die Stressreaktion unseres Körpers mildern. Wie unsere Darmbakterien Einfluss auf zahlreiche Organsysteme unseres Körpers, ja sogar auf unser Verhalten nehmen, werden ich in Kapitel »Mikrobiom« genauer beleuchten. Fest steht, dass die tägliche Ernährung unseren innigsten Kontakt zu unserer Umwelt darstellt. Ein Umstand, den vielen Menschen, die Essen als notwendiges Übel ansehen, um die »Maschine Köper« am Laufen zu halten, nicht berücksichtigen. Groß angelegte Studien haben gezeigt, dass eine mangelhafte und einseitige Ernährung weltweit für mehr Todesfälle verantwortlich ist als alle anderen Risikofaktoren, einschließlich des Tabakrauchens.35

      Eine gesunde Ernährung hingegen liefert nicht nur ausreichend Nährstoffe bei gleichzeitig weniger leeren Kalorien, sie ist zudem als Lieferant von Methylgruppen und anderen bioaktiven Molekülen auch ein potenter Modulator epigenetischer Prozesse.36

       Gesunde Bewegung

      Verschiedene Studien haben gezeigt, dass körperliche Aktivität nicht nur die allgemeine Gesundheit verbessert, sondern im Speziellen vor allem kognitive Funktionen, die Hirnentwicklung, die hormonelle Regulation und die Immunfunktion positiv beeinflusst.37

      Und selbst wenn die diesbezügliche Forschung noch recht jung ist, so zeichnet sich mittlerweile ab, dass auch regelmäßige körperliche Aktivität ihre schützende Wirkung bezüglich Krankheiten wie Diabetes mellitus, Adipositas und in der Folge Herz-Kreislauf-Erkrankungen über die Beeinflussung epigenetischer Prozesse ausübt.38

      Zusammen mit gesunder Ernährung und ausreichend erholsamem Schlaf zählt die regelmäßige moderate körperliche Betätigung zu den drei wichtigsten, relativ einfach und täglich umsetzbaren Maßnahmen für ein langfristig gesundes Leben. Ich werde diese drei untereinander vernetzten Gesundheitsfaktoren im Verlauf des Buches noch ausführlicher beleuchten.

       Achtsamkeit

      Die vielfältigen, nicht genormten Formen von achtsamkeitsbasierten Meditationstechniken lassen sich nur schwer objektivieren, um sie wissenschaftlich problemlos vergleichen zu können. Trotz dieser und anderer Einschränkungen deuten aktuelle Untersuchungen an Erwachsenen darauf hin, dass auf Achtsamkeit basierende Interventionen wie Meditation, Yoga, Tai Chi und Qi Gong eine Vielzahl von sozialen, emotionalen, verhaltensbezogenen und physiologischen Gesundheitsparametern entscheidend verbessern können.39