trage ich es seinetwegen, ja. Ich habe nach seinem Tod die freie Stelle im Team angenommen.«
»Sie fahren bei Haven? Sie glauben, mir weismachen zu können, dass Sie ein Haven-Fahrer sind? 45 Minuten hinter der Mannschaft? In einem verwanzten Trikot von vor drei Jahren? Ohne Teamwagen alleine auf der Straße?« Plötzlich wurde sich der Ladenbesitzer des Blicks in Ross’ Augen bewusst.
»Ja, mein Freund, mais oui, Sie ersetzen Colgan. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe in L’Equipe von Ihnen gelesen. Ja, natürlich. Bonne chance – Sie müssen jetzt fliegen. Sie haben einen großen Rückstand wettzumachen. Aber das sollte Ihnen nicht schwer fallen, Sie sind ja ein Champion, non?«
Er schob Will an und beobachtete, wie er die Hauptstraße des Dorfes hinunterfuhr. Sobald Ross aus dem Blickfeld verschwunden war, rannte Jean Jablom in das Hinterzimmer seines Geschäfts und wählte eine Telefonnummer, die er stets in seinem Herzen trug. Innerhalb von fünf Minuten hatte er alle seine Wetten für die Saison geändert. Er hatte immer auf Haven gesetzt. Dank Haven hatte er eine Menge Geld verdient. Er glaubte an Treue.
Aber es gab keinen Grund, deshalb Dummheiten zu machen. Will kämpfte, die Nase dicht über dem Lenker, gegen den Wind. Er hatte zu Beginn ein gutes Tempo aufgenommen und beibehalten, aber jetzt, da die Brise sich in einen satten Gegenwind verwandelte und das Terrain schwieriger wurde, musste er sich ganz darauf konzentrieren, überhaupt im Tritt zu bleiben. Wenige Kilometer zuvor hatte er auf die Karte geschaut und eine kleine Landwirtschaftsstraße ausgemacht. Es war eine Abkürzung, um auf die Straße zurück nach Senlis zu gelangen. Er könnte sie nehmen, etwa zwei Stunden gutmachen, vor der Mannschaft rauskommen, sie vorbeifahren lassen und dann locker ausrollen. So würde er vielleicht 15 bis 20 Minuten hinter ihnen am Velodrom ankommen. Deeds würde sich in die Hosen machen. Die ganze Mannschaft würde sich in die Hosen machen. So könnte er sich Respekt verschaffen, bis zur nächsten Ausfahrt, am nächsten Tag, wenn er nach zwanzig Kilometern abreißen lassen müsste. Vielleicht würden sie denken, er habe sich am Vortag verausgabt, also würden sie verständnisvoll sein. Vielleicht auch nicht. Und selbst wenn, dann nur so lange, bis sie herausbekämen, dass er es einfach nicht draufhatte und dass kein Training der Welt etwas daran ändern konnte.
Hatte er es jemals draufgehabt? Als Kind vielleicht, auf dem gusseiseren Rad mit den dicken Reifen, als er seine Mutter damit wahnsinnig gemacht hat, die alte Straße nach Hickory Corners, vier Meilen von zu Hause, herunterzubrettern, um blinde Ecken und um schnelle Kurven, auf dem kleinen Rad, das von einem kleinen Jungen gefahren wurde, der nicht mehr von Fahrrädern fernzuhalten war, seit er gelernt hatte, im Sattel zu bleiben. Sein Bruder hatte es ihm beigebracht. Auf einem großen Rad. Auf dem Rad seiner Schwester. Sein eigenes hatte er Will lieber nicht gegeben. Ein großer Hügel und ein großer Stubser. Es war das fantastischste Gefühl der Welt, der Wind, die Geschwindigkeit, die Angst. Unter dem Sturz hatten die Schutzbleche gelitten, nicht aber Wills Gefühle gegenüber Fahrrädern. Er konnte nicht genug bekommen. Wenn er Order bekam, von der Straße wegzubleiben, hoppelte er eben über Felder und durch Schlammlöcher. Ein Freund aus der Nachbarschaft hatte ihm mit dem Traktor seines Vaters sogar eine Schneise in das Feld gemäht.
Will begann an seinem Tacho zu zweifeln. Er ging an und aus und sah nicht so aus, als würde er funktionieren. Er sagte ihm, dass er vier Stunden gefahren war und er hätte schon längst am Wendepunkt sein müssen. Die Abkürzung hatte er bei seiner Träumerei um mindestens zwanzig Kilometer verpasst.
Allein im Wind, mit dem Kopf zwischen den Oberarmen, fand er plötzlich etwas, das ihn aufrichtete. Kein brennendes Verlangen, nur die Erinnerung an eine Ausgabe von L’Equipe, die er im Klassenzimmer eines Französischlehrers in der High School von Delton, Michigan gefunden hatte. Sein Vater war dort Hausmeister gewesen und hatte ihn mitgenommen, um Frösche zum Angeln aus einem Lichtschacht einzusammeln. Will war durch das Klassenzimmer gestromert, während er auf seinen Vater wartete, als er es entdeckte – das wildeste, furchteinflößendste Gesicht, das ihn je aus einer verwitterten, an eine Betonwand getackerten Zeitung angestarrt hatte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was da stand, aber die Seite sprach ihn direkt an. Über Tausende von Meilen Entfernung und in einer unverständlichen Sprache berührte sie die Seele eines kleinen Jungen in Michigan. Irgendwo auf der Welt gab es jemanden, der über Räder und Rennen schrieb und über wilde Männer auf zwei Rädern, die genauso empfanden wie er, wenn er den Wind im Gesicht hatte.
Anquetil – das war das einzige Wort, das in der Überschrift in Großbuchstaben gedruckt war, also, dachte Will, muss das sein Name sein. Und dies war das Zimmer des Französischlehrers, also musste er Franzose sein. Und da stand irgendetwas über eine Tour. Tour. Tour de France. Er würde nachfragen. Tour de France. Das würde er sich einprägen, in seine Erinnerung einbrennen. Er würde herausbekommen, was das ist.
Es war nicht so einfach, Mitte der siebziger Jahre in West-Michigan Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Die Gegend war nicht unbedingt als Wiege von Fahrrad-Champions bekannt. Hier gab es Landwirschaft, Football und die Kirche. Sport bedeutete: die Tigers und die Cubs und die Lions und die Bears. Basketball gab es in der High School. Hockey gab es in Kanada. Radfahren war etwas, das Kinder taten.
Aber in Detroit, zwei Autostunden entfernt, auf der anderen Seite des Staates, lag die Sache anders. In der Bibliothek war nachzulesen, dass es dort eine Radrennbahn gab. Eine Bahn, die sie »Velodrom« nannten. Und es gab Clubs. Clubs, die am Wochenende mit ihren Rädern Rennen fuhren. Und es gab Fahrradgeschäfte. Geschäfte, die andere Räder verkauften als die schweren Western Flyers mit ihren Ballonreifen und Gestängebremsen.
Ein Fahrrad hatte für Will immer Freiheit bedeutet. Jetzt bedeutete es mehr: Geschwindigkeit. Eine Geschwindigkeit, die ein Junge sonst erst mit sechzehn erfahren konnte, dem magischen Alter, in dem man in die Fahrschule gehen durfte. Und Gefahr. Geschwindigkeit. Und Gefahr. Und Anquetil, der ihn mit beunruhigenden Augen von der Seite her anstarrte. Es bedeutete, dass er endlich erfahren würde, was hinter diesen Augen verborgen lag.
Cheryl Crane ließ sich auf einen zerlumpten Sessel in einer Ecke der Werkstatt sinken. Eine Staubwolke, die sich über die Jahrzehnte angesammelt hatte, stieg um sie herum auf. Sie schloss die Augen und hielt für einen Augenblick die Luft an, bis der Staub sich verzogen hatte. Es roch wie im Keller ihrer Mutter. Sie öffnete die Augen und blickte auf eine Reihe niedriger Zeitfahrmaschinen, deren Lackierung und Titanteile auf Hochglanz poliert waren. Es waren tödliche Waffen. Sie vermisste sie. Sie vermisste die Geschwindigkeit und die Hatz, die Aufregung, das Gerangel und die Schinderei in der Meute. Die Herausforderung von innen und von außen.
Sie wollte wieder auf dem Rad sitzen, wieder Teil der Meute sein, anstatt ihr Leben damit zu verschwenden, für ein Team halbtalentierter Egozentriker und Maulhelden und Trottel die Krankenschwester zu spielen.
Und dann Ross. Weiß Gott, wohin der gehörte.
Will aß und trank, während die Kilometer an ihm vorbeizufliegen begannen. Der Gegenwind, der ihn auf der Auswärtsstrecke zermürbt hatte, schob ihn jetzt nach Hause. Es wurde leichter, den Schnitt zu halten, sogar ein wenig zu verbessern, und nachdem er einen Blick auf die Karte geworfen hatte, erhöhte er seinen Takt. Er stellte in Gedanken das Metronom, das er im Winter beim Training auf der Rolle immer benutzte. Er erhöhte im Kopf seine Schlagzahl und seine Beine pumpten zum Takt der mentalen Uhr.
Klick. Klick. Klick. Klick-Klickklickklickklickklickklickklickklickklickklick.
Der erste Ausflug nach Detroit wäre beinahe ein Desaster geworden. Sie hatten nicht gewusst, wonach oder nach wem sie suchen sollten und die Abneigung seines Vaters gegen das Fahren in Großstädten hätte die Suche beinahe enden lassen, bevor sie richtig begonnen hatte. Schließlich waren sie zwei Stunden vor Beginn des Football-Spiels im Stadion der Tigers angekommen.
Trotzdem war es keine vergeudete Zeit. Will ging mit einer Hand voll Zehn-Cent-Stücke hinter die Tribüne, fand eine Telefonzelle und ein fast vollständiges Telefonbuch und begann zu telefonieren. Er rief das Velodrom an, die Fahrradclubs, die Radläden. Jeden, von dem er glaubte,