Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt


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würde, welches Geschlecht das Baby haben würde. Konnte ihr sagen, ob ihr Probleme bevorstanden und wie sie die vermeiden konnte. Konnte einen Mann ansehen und ihm sagen, ob der Schnaps schon seine Leber zerfressen und seine Eingeweide getrocknet hatte wie Würste, erkannte es am Gelb in seinen Augen, am Zittern seiner Hände. Und noch was anderes hat sie gesagt. Dass alle Lebewesen für sie von tausend Stimmen umgeben waren und dass sie immer den lautesten folgte, weil die am wahrscheinlichsten waren. Dass sich die klarsten Stimmen vom Gewirr der restlichen abhoben. Sie hörte Laute, die vom Gesicht einer Frau im Haushaltswarenladen kamen: Flip hat mir die Wange aufgeschlitzt, weil ich mit Ced getanzt habe. Vom Ladenbesitzer, bei dem das eine Bein sang: Das Blut wird schwarz und staut sich, die Zehen faulen. Hörte, wie der Bauch einer Kuh sagte: Das Kalb kommt mit den Füßen zuerst raus. Dass sie die Stimmen zum ersten Mal gehört hat, als sie in die Pubertät kam. Und als sie es so erklärt hat, wurde mir klar, dass ich auch schon Stimmen gehört hatte. Als ich noch jünger war, beklagte sich meine Mama, weil sie Bauchweh hatte, von den Magengeschwüren. Ich konnte sie hören, sie sagten, Wir essen und fressen, essen und fressen; ich war verwirrt und fragte Mama immer wieder, ob sie hungrig war. Marie-Therese gab mir Unterricht, sie brachte mir alles bei, was sie wusste, und als dein Pop und ich geheiratet haben, war das meine Arbeit. Ich war damit beschäftigt, Babys auf die Welt zu holen und Leute zu behandeln und Gris-Gris-Beutel zu nähen, als Schutz.« Mama rieb sich die Hände wie beim Waschen. »Aber jetzt ist nicht mehr viel. Außer den Alten kommt keiner mehr zu mir.«

      »Du kannst ein Kind auf die Welt holen?«, fragte ich sie. Das andere, was sie gesagt hatte, über die Gris-Gris-Beutel, stand unausgesprochen zwischen uns auf dem Tisch, so selbstverständlich wie eine Butterdose oder eine Zuckerdose. Sie lächelte, blinzelte und schüttelte den Kopf, und das alles bedeutete nur eins: Ja. In dem Moment wurde Mama für mich mehr als meine Mutter, mehr als die Frau, die mich anhielt, vor dem Schlafengehen den Rosenkranz zu beten, und mich ermahnte: Vergiss nicht, zu den Müttern zu beten. Sie hatte mehr getan als ihre Mutterpflicht, als sie mich mit selbstgemachter Salbe einrieb, wenn ich Ausschlag hatte, oder mir besonderen Tee kochte, wenn ich krank war. Dieses kleine Lächeln war ein Hinweis auf die Geheimnisse in ihrem Leben, all die Dinge, die sie gelernt und gesagt und gesehen und erlebt hatte, die Heiligen und die Geister, mit denen sie gesprochen hatte, als ich noch zu klein war, um ihre Gebete zu verstehen. Das kleine Lächeln verzog sich zu einem Stirnrunzeln, als Given zur Tür hereinkam.

      »Junge, wie oft soll ich dir noch sagen, zieh die dreckigen Stiefel aus, wenn du ins Haus kommst.«

      »Sorry, Ma.« Er grinste, beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss, richtete sich dann wieder auf und ging rückwärts wieder nach draußen. Er war ein Schatten hinter der Fliegengittertür, während er sich mit den Füßen die Schuhe abstreifte. »Dein Bruder hört nicht mal, was ich zu ihm sage, ganz zu schweigen von dem, was die Welt singt. Aber du vielleicht schon. Wenn du anfängst, Sachen zu hören, sagst du mir Bescheid«, sagte sie.

      Given hockte sich auf die Treppe und schlug seine Schuhe gegen das Holz, um den Lehm abzuklopfen.

      »Leonie«, sagt Pop.

      Ich wünschte, er würde mich anders nennen. Früher hat er mich »Mädchen« genannt. Wenn wir die Hühner gefüttert haben: Mädchen, ich weiß, dass du die Körner noch weiter werfen kannst. Wenn wir im Gemüsegarten Unkraut gejätet haben und ich stöhnte, weil mir der Rücken wehtat: In deinem Alter weißt du gar nicht, was Schmerzen sind, Mädchen, bei deinem jungen Rücken. Wenn ich Zeugnisse mit mehr Einsen und Zweien als Dreien nach Hause brachte: Bist ein kluges Mädchen. Er lachte, wenn er es sagte, manchmal lächelte er auch nur, und manchmal sagte er es mit einem neutralen Gesichtsausdruck, aber es fühlte sich nie wie ein Tadel an. Jetzt nennt er mich nur noch bei meinem Vornamen, und jedes Mal, wenn er ihn ausspricht, klingt es wie eine Ohrfeige. Ich werfe den Rest von Jojos Geburtstagskuchen in den Müll, fülle ein Glas mit Leitungswasser und trinke es sofort aus, um Pop nicht ansehen zu müssen. Ich spüre, wie mein Kiefer bei jedem Schluck knackt.

      »Ich weiß, du willst nett sein und den Jungen abholen. Aber dir ist schon klar, dass er sonst in den Bus gesetzt wird, oder?«

      »Er ist der Daddy von meinen Kindern, Pop. Ich muss ihn abholen.«

      »Und seine Mama und sein Papa? Was, wenn die ihn abholen wollen?«

      Daran hatte ich nicht gedacht. Ich stelle das leere Glas ins Waschbecken und lasse es dort stehen. Pop wird sich beschweren, weil ich mein Geschirr nicht abwasche, aber meistens schimpft er mit mir nicht wegen zwei Sachen auf einmal.

      »Wenn sie ihn abholen wollten, hätte er mir das gesagt. Hat er aber nicht.«

      »Warte doch, bis er wieder anruft, ehe du dich entscheidest.«

      Ich erwische mich dabei, wie ich mir den Nacken massiere, und höre damit auf. Mir tut alles weh.

      »Nein, das geht nicht, Pop.«

      Pop geht einen Schritt von mir weg und schaut an die Küchendecke.

      »Du musst mit deiner Mama reden, ehe du losfährst. Ihr sagen, dass du wegfährst.«

      »Ist es so ernst?«

      Pop greift sich einen Küchenstuhl und ruckelt daran, rückt ihn gerade, wird dann still.

      Given-nicht-Given blieb den ganzen Abend bei mir, als ich bei Misty war. Er folgte mir sogar noch zum Auto und setzte sich auf den Beifahrersitz, stieg einfach durch die Tür ein. Als ich von Mistys Schotterauffahrt auf die Straße fuhr, blickte Given geradeaus. Auf halbem Weg nach Hause, auf einer der dunklen zweispurigen Landstraßen, wo der Asphalt so abgefahren ist, dass die Reifen knirschten und ich dachte, die Straße sei gar nicht gepflastert, wich ich einem Opossum aus. Es erstarrte mit buckligem Rücken im Scheinwerferlicht, und ich hätte schwören können, dass ich es fauchen hörte. Als meine Brust sich wieder entspannte, sich nicht mehr wie ein Kissen voller heißer Stecknadeln anfühlte, schaute ich wieder zum Beifahrersitz rüber, und Given war nicht mehr da.

      »Ich muss hin. Wir müssen hin.«

      »Warum?«, sagt Pop. Es klingt fast sanft. Die Sorge um uns macht seine Stimme eine Oktave tiefer.

      »Weil wir seine Familie sind«, sage ich. Eine brennende Linie zieht sich von meinen Zehenspitzen über den Bauch hoch bis in meinen Hinterkopf, ein Hauch von dem, was ich gestern Abend gespürt habe. Und dann geht es weg, und ich bin starr, still, in einem Tief. Pop presst die Lippen fest zusammen, und er wird zu einem Fisch, der am Haken zieht, an der Angelschnur, gegen etwas kämpft, das viel stärker ist als er. Und dann ist es vorbei, und er blinzelt und schaut weg.

      »Er hat mehr als eine, Leonie. Die Kids haben auch mehr als eine«, sagt Pop, und dann entfernt er sich von mir und ruft nach Jojo. »Junge«, sagt er. »Junge. Komm mal her.«

      Die Hintertür knallt zu.

      »Wo bist du, Junge?«

      Es klingt wie eine Umarmung, so als würde Pop es singen.

      »Michael kommt morgen raus.«

      Mama drückt die Handflächen aufs Bett, zieht die Schultern hoch und versucht, ihr Becken zu heben. Sie verzieht das Gesicht.

      »Tatsächlich?« Ihre Stimme ist leise. Nur ein Hauch.

      »Ja.«

      Sie lässt sich zurück ins Bett fallen.

      »Wo ist dein Pop?«

      »Draußen, mit Jojo.«

      »Ich brauche ihn.«

      »Ich muss noch einkaufen. Ich sag ihm Bescheid.«

      Mama kratzt sich am Kopf und atmet hörbar aus. Ihre Augen schließen sich zu Schlitzen.

      »Wer holt Michael ab?«

      »Ich.«

      »Und wer noch?«

      »Die Kinder.«

      Jetzt schaut sie mich wieder an. Ich wünschte, ich könnte das zischende Brennen wieder spüren, aber ich bin jetzt ganz runter und fühle mich nur noch leer. Hohl und ausgetrocknet.