er gestorben?«
»Kann ich im Moment noch nicht sagen. Wer war er?«
»Alexander Adamson. Ein Penner. Im Winter hat er in billigen Absteigen gehaust. Im Sommer da, wo er konnte. Angehörige nicht bekannt. Tolle Grabinschrift.«
Laidlaw erinnerte sich, dass er Eck eines Nachts schlafend auf einem Belüftungsgitter draußen vor der Central Station gefunden hatte. Er hatte sich die Wärme zunutze gemacht, die aus der Küche des Central Hotel aufstieg. Jetzt fand hier die Totenfeier am Ende eines trostlosen Lebens statt, sie beschränkte sich auf wenige zwischen Fremden gewechselte Sätze.
»Zum Schluss war es nicht mehr schlimm für ihn«, sagte der Arzt. »Er ist friedlich gestorben.«
Laidlaw nickte. Wie ein Blatt.
»Ich will eine staatsanwaltliche Obduktion.«
»Natürlich. Das ist Vorschrift.«
»Heute noch? Ich hätte das Ergebnis gerne heute.«
»Wir werden sehen.«
»Ja, das werden wir.«
Auf dem Weg zum Wagen schaute Laidlaw noch einmal in der Notaufnahme vorbei. Der Junge mit der blutverschmierten Jacke war weg. Eine Schwester zeigte Laidlaw Ecks Habseligkeiten in einem braunen Umschlag; eine leere Dose mit krümeligen Tabakresten, eine stehen gebliebene Armbanduhr, sieben einzelne Pfund und ein schmutziger Zettel. Laidlaw strich den Zettel glatt und las die handschriftliche Botschaft.
Der puritanische Trugschluss besteht darin zu glauben, Tugendhaftigkeit würde von alleine erreicht. Man macht das Richtige, weil man es nicht anders kennt. Das ist die Woolworth-Moral der Gesellschaft, ein billiger Ersatz. Wahre Moral beginnt mit einer Entscheidung: je größer die Entscheidungsvielfalt, desto größer die Moralität. Nur diejenigen können wahrhaft gut sein, die ihre Fähigkeit, Böses zu tun, genau überprüft haben. Idealismus ist Zensur der Realität.
Fein säuberlich notiert, darunter eine Adresse in Pollokshields und die Namen Lynsey Farren und Paddy Collins in schwarzem Kugelschreiber, außerdem »The Crib« und die Nummer 9464 946.
Laidlaws erste Reaktion war eine praktische. Ihm fiel auf, dass die Handschrift dieselbe, der Text aber mit blauem Stift notiert worden war. Er vermutete, dass die hausgemachten philosophischen Überlegungen bereits auf dem Zettel gestanden hatten, als deren Verfasser weitere Informationen hinzugefügt hatte. Für wen aber? Für Eck?
Der erste Teil war sicher nicht für ihn bestimmt gewesen. Aber auch die Adresse schien nicht zu passen. Pollokshields, wo das Geld auf Bäumen wächst, war wohl kaum Ecks Gefilde. Die Nummer sagte Laidlaw nichts. Nur »The Crib« ergab Sinn.
Dann überkam Laidlaw ein leichter Schauder, als er den Zettel in Händen hielt und Menschlichkeit seine Professionalität zu verdrängen drohte. In dem Versuch, diesem Gefühl auf den Grund zu gehen, las er den Absatz noch einmal. Vielleicht lag es an der hier spürbaren, gefährlich verzerrten Form jener calvinistischen Selbstgerechtigkeit, die sich in den Herzen vieler Schotten wie Eiszapfen herausgebildet hatte. Er fragte sich, von wem Eck diese seltsame Botschaft bekommen hatte.
Als er aufblickte, löste sich seine Schwermut angesichts des freundlich runden Gesichts der Schwester, die sich praktischen Dingen widmete. Durch sie wurde ihm bewusst, dass er es am besten genauso machen sollte.
»Verzeihung«, sagte er. »Den Zettel brauche ich. Muss ich was dafür unterschreiben?«
5
SCHANKGESETZE KÖNNEN SPASS MACHEN. Ohne käme man nie in den Genuss der geheimnisvollen Freuden des verbotenen Trinkens nach Kneipenschluss – und des Gefühls der Dazugehörigkeit zu einem sehr kurzlebigen Klub. Romantisch wie eine Holzhütte in Yukon, doch die Zeit sabbert schon wie ein zahnloser Wolf vor verschlossener Tür.
Genau solch eine Atmosphäre herrschte im »Crib«, einem Pub, das trotz seines Namens für Kinder kaum geeignet war. Es war nach halb eins. Draußen auf den Straßen von Saracen, einem ruppigen Viertel nördlich des Zentrums, war es ruhig. Drinnen hatten fünf Menschen spontan ein Pentagramm gebildet und dazu aufgerufen, sich selbst zu feiern.
Einer von ihnen war der ständige Barkeeper Charlie, der von einem Pub in Calton hierhergekommen war. Er war Mitte fünfzig und seinem Alter an Klugheit weit voraus. Obwohl er den Großteil seines Lebens zwischen gewalttätigen Männern verbracht hatte, waren seine schlimmsten Auseinandersetzungen solche mit Bierfässern gewesen.
Das Geheimnis seines narbenfreien Gesichts war ein feines Gespür für Hierarchien. Wie ein Glasgower Knigge kannte er exakt die für jede beliebige Situation angemessene Form der Ansprache. Außerdem arbeitete er für einen Mann, dessen Namen andere sich überzogen wie eine Livree aus Panzerstahl. Hatte man Beziehungen zu John Rhodes, war das ein bisschen, als hätte man Securicor als Taxiunternehmen verpflichtet.
Ein Vorteil, den Charlie nie ausnutzte. Selbst jetzt, in der sicher abgesperrten Kneipe, zügelte er sich, weil er wusste, dass Ausgelassenheit angreifbar macht. Er hatte zwei nicht allzu große Whisky getrunken und leise in den Refrain eines Lieds eingestimmt.
Dass er genau wusste, wo er war, war weniger entscheidend als dass er wusste, wo er nicht war, nämlich im Krankenhaus. Dies hier war Dave McMasters Veranstaltung. Charlie begnügte sich damit, einer weiteren von Daves Geschichten zu lauschen.
»Die gehen also auf den Barras, den Markt, okay? Einer ist als Nikolaus verkleidet. Ein Zentner Baumwolle und Gummistiefel von der Armee. Der andere schleppt die Spielsachen, kleine Modellautos und angesabbertes Kaugummi. Nikolaus lockt sie an, und sein Helfer nimmt ihnen das Geld ab. So machen die das den ganzen Tag, verziehen sich nur ab und zu zum Aufwärmen ins Pub. Gut. Als dichtgemacht wird, sind sie auch wieder drin. Teilen die Beute. Nur dass der Helfer zwei Drittel haben will und der liebe Nikolaus nur eins bekommen soll. Nikolaus ist stinkig. Und zack! Könnt ihr euch das vorstellen? Er präsentiert ihm ein Geschenk. Dann tätowiert er ihm die Rippen mit den Stiefeln. Flucht so laut, dass sein Bart Feuer fängt. Am lustigsten war’s, als der Türsteher die beiden rausgeschmissen hat. Nikolaus liegt auf dem Gehweg und der Rausschmeißer schreit: Du hast Hausverbot, Nikolaus! Hausverbot. Nikolaus hat Hausverbot.«
Charlie lachte mit, aber nicht mit derselben Unbekümmertheit wie die anderen. Er hatte begriffen, worum es ging. Die anderen drei hofierten Dave.
Das Mädchen war seine Freundin. Jedes Mal, wenn er etwas sagte, fraß sie ihn mit Blicken auf. Lachte über seine Witze, als gelte es einen Wettstreit zu gewinnen.
Mit ihrem vornehmen Akzent, ihren schicken Klamotten und ihrer blonden Eleganz gehörte sie hierher wie eine Jungfrau ins Bordell. Aber wahrscheinlich steckte mehr dahinter, als der erste Eindruck vermuten ließ. Sie war jetzt schon seit einem Monat ständig in Daves Nähe. Was auch immer sie an ihm anziehend fand, seine zuvorkommenden Manieren konnten es nicht sein.
Dave McMaster war die neue Version eines alten Typs. Charlie hatte schon einige von seiner Sorte erlebt, Rabauken mit der Ambition, sich einen Ruf über den eigenen Freundeskreis hinaus aufzubauen und das eigene Hobby, Gewalt, zum Beruf zu machen.
Bei einer Schlägerei mit zwei jungen konkurrierenden Banden aus Possil war Dave ausgetickt, hatte ein Bajonett geschwungen und mehr als sechs Gegner in die Flucht geschlagen. Charlie konnte sich vorstellen, wie er am nächsten Morgen aufgewacht war und plötzlich einen Ruf zu verteidigen hatte, der ihm ebenso viel abverlangte wie eine Heroinsucht. Seither hatte er sich weiterentwickelt, aber Charlie zweifelte immer noch. Dave war sehr schnell aufgestiegen. Jetzt war er die rechte Hand von Hook Hawkins, der im Auftrag von John Rhodes vier Pubs in Saracen führte, darunter auch »The Crib«. Dave war ehrgeizig. Charlie fragte sich nur, ob er sich in seinem Ehrgeiz nicht übernahm.
Keiner der anderen schien Charlies Bedenken zu teilen. Sie waren so kritisch wie ein Fanklub. Außer dem Mädchen saßen dort Macey, ein kleinkrimineller Einbrecher, und ein Junge namens Sammy, den Charlie nicht kannte. Wahrscheinlich wollte sich Macey in Daves Fahrwasser hocharbeiten.
Sammy war Tourist, Macey hatte ihn hier eingeführt. Er sah aus wie ein Vetter vom Land. Seine Augen glänzten vor Bewunderung für Daves Unerbittlichkeit.