Dave Gross

Prinz der Wölfe


Скачать книгу

Mutter hatte diese Ablagerungen immer „Desnas Fußspuren“ genannt. Warum konnte ich an diesem Morgen nicht aufhören, an meine verstorbene Mutter zu denken? Ich hatte sie vor so langer Zeit verloren und niemals wieder solch einen Verlust erlitten.

      Wo war Radovan? Wo waren die anderen Mitglieder unserer Reisegesellschaft?

      Eine Durchsuchung des unbekannten Zimmers förderte mein Gepäck zutage. Ich bemerkte, dass der Kleiderschrank aus Zedernholz meine gesamte Kleidung enthielt, und nicht nur die, in der ich gereist war. Am Boden des Schranks lagen die Taschen, die meine persönliche Habe und meine Bücher enthielten, darunter auch meinen kleinen, tragbaren Schreibtisch und dieses Tagebuch. Die Vorsehung lächelte mir zu, wenn auch nur kurz.

      Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach mich bei meiner Garderobe.

      „Herein“, sagte ich.

      Hinein schlüpfte eine kleine, junge Frau in den Farben der Galdanas, kornblumenblau und weiß. Sie war ungefähr fünfzehn Jahre alt und hatte genug Erfahrung im adeligen Haushalt, um zu versuchen, ihre Furcht zu verbergen, jedoch nicht genug, um damit Erfolg zu haben. Sie vollführte einen nervösen Knicks in dem Versuch, die Gebräuche aus dem Süden nachzuahmen, und starrte auf den Boden zu meinen Füßen.

      „Was gibt es, Mädchen?“

      „Mein Herr, ich bin hergeschickt worden, um mich um Eure Bedürfnisse zu kümmern.“

      „In der Tat“, sagte ich und musterte sie. Ich erinnerte mich ausreichend an die ustalavische Gastfreundschaft, um zu wissen, dass sie sich nicht großartig von der chelischen unterschied, was die Geschlechterrollen betraf. Wenn Nicola nicht verfügbar war, so wurde erwartet, dass der Gastgeber einen männlichen Diener schickte, um mir bei meiner Toilette zu helfen. Ein junges Kammermädchen mit einer solch mehrdeutigen Aufgabe zu betrauen, war eine Einladung zur Indiskretion. Selbst wenn der Graf ein Mann mit liberalen Moralvorstellungen war, war es doch keine geringe Kränkung anzunehmen, ich würde seine Indiskretionen teilen.

      „Wie ist dein Name?“, fragte ich.

      „Anneke“, antwortete sie mit einem weiteren Knicks.

      „Anneke, ich wünsche, mit deinem Herren zu sprechen“, sagte ich, wohl wissend, dass sie nicht in der Lage sein würde, meine Fragen zu beantworten. Auch meldete sich mein Magen mit einem peinlichen Zwischenruf zu Wort. „Außerdem wünsche ich, mein Frühstück einzunehmen.“

      Sie vollführte unnötigerweise erneut einen Knicks. „Mein Herr, der Herr Kasomir ist in Kavapesta“, sagte sie. „Und die Herrin Tara verbleibt in ihren Gemächern.“

      „Was ist mit Graf Galdana?“

      „Er ist seit den letzten fünf Wochen fort, mein Herr“, antwortete sie. Nach einem Augenblick des Zögerns fügte sie hinzu: „Und zwei Tagen.“

      „Wann wird er zurückerwartet?“

      „Mir wurde gesagt, dass er vor dem Schnee zurückkehren soll, wie es seine Gewohnheit ist.“

      „Seine Gewohnheit?“

      „Seine Exzellenz jagt jeden Herbst in den westlichen Tälern.“

      Ich erinnerte mich, in Caliphas einige Gerüchte über diese Verschrobenheit gehört zu haben. Unter Galdanas Standesgenossen gab es einige Debatten darüber, ob seine Expeditionen in die am wenigsten bewohnten Gebiete seiner Grafschaft Zeichen einer ungewöhnlichen Hingabe für seine Untertanen, schlichtweg Naivität oder Wahnsinn waren. Selbstverständlich war für gewisse Adlige in Ustalav der Unterschied zwischen diesen drei Möglichkeiten sehr gering.

      „In diesem Fall“, sagte ich, „schicke den Hausdiener in den Speisesaal.“

      „Ja, Exzellenz.“ Sie neigte kurz den Kopf und verschwand geduckt zur Tür hinaus.

      „Einen Moment“, sagte ich und zog meine Stiefel an. „Du musst mir den Weg zeigen.“

      Einen Augenblick lang waren ihre Gesichtszüge vor Überraschung leer, als sich unsere Augen trafen. „Natürlich, mein Herr.“

      Sie führte mich durch das unbekannte Haus. Als wir die Stufen ins Erdgeschoss hinuntergingen, entdeckte ich draußen einen Mann. Er trug schwere Handschuhe und hatte ein langes, feuchtes Halstuch um sein Gesicht geschlungen. Er kniete neben einer gestürzten Nachtschwalbe und legte sie in einen Leinensack. Bevor er aufstand, vollführte die Spitze seines Daumens die Spirale der Pharasma über seinem Herzen.

      Ich hielt neben dem offenen Fenster inne und beobachtete ihn, wie er seinen Rundgang um das Haus fortsetzte. Zwanzig Schritte weiter kniete er sich erneut nieder, um einen weiteren toten Vogel aufzuheben. Der Sack hing schwer an seiner Seite.

      Neben mir zog Anneke verstohlen die Spirale der Pharasma über ihrem Bauch.

      Ich nickte in Richtung des jungen Mannes im Hof und fragte: „Dein Ehemann?“

      „Mein Ehemann!“, sagte sie. „Oh, nein, mein Herr. Ich bin nicht verheiratet.“

      „Natürlich nicht“, sagte ich und verbarg meine Überraschung. Nun war meine unausgesprochene Frage die, ob das Kind, das sie trug, Graf Galdanas Bastard war.

      Tara erwartete mich in einem von Sonnenlicht durchfluteten Speisesaal. Hinter ihr gaben mit Fenstern versehene Türen den Blick auf das östliche Panorama frei. Große, weiße Wolken zogen über den Himmel, und ihre Formen spiegelten sich im Fluss. Jenseits des Wassers, in der Ferne kaum auszumachen, lag die Stadt Kavapesta. Ich hatte sie noch nie von diesem Aussichtspunkt aus gesehen, doch ich erkannte die zwiebelförmigen Türme ihrer Tempel von einem früheren Besuch.

      „Im Namen meines Vetters, des Grafen Galdana, heiße ich Euch in Weidenweh willkommen“, sagte Tara. Sie vollführte einen Knicks in der Art meines Landes, jedoch tiefer, als ich es seit meinem letzten Besuch im Ballett gesehen hatte. Da ich wusste, dass ihre Standesgenossen in Caliphas bestrebt gewesen sein mussten, ihr die Bräuche auszutreiben, die sie in Vudra gelernt hatte, rührte mich diese Geste. „Wir schulden Euch unser Leben, Euer Exzellenz.“

      Ich erwiderte ihre Höflichkeit mit einer förmlichen Verbeugung. „Obgleich mich nichts mehr erfreuen würde, als zu wissen, Euch bei Eurer sicheren Ankunft unterstützt zu haben, bin ich ratlos, was die Einzelheiten betrifft.“

      Tara verzog ihr Gesicht zu einer hübschen kleinen Grimasse und blickte auf eine Stelle oben auf meinem Kopf, obwohl ich dort keine Wunde fühlte. „Das haben wir befürchtet, Euer Exzellenz.“

      Ich hob eine Hand. „Bitte“, sagte ich. „Erweist mir die Ehre, mich mit meinem Vornamen anzusprechen: Varian.“

      Sie vollführte einen weiteren Knicks, wiederholte meinen Namen jedoch nicht. So sehr ich ihre gute Erziehung auch schätzte, meine eigene war über die Jahre etwas abgenutzt, und ich hatte für einen Morgen genug Höflichkeit ertragen.

      „Wo sind meine Bediensteten?“, fragte ich.

      Sie wandte den Blick ab, und ich kannte die Antwort, bevor sie sie mir gab. „Ich bedauere, Euch mitteilen zu müssen, dass sie nun auf Pharasmas Acker liegen.“

      „Allesamt?“ Die Frage blieb mir in der Kehle stecken.

      „Die Männer des Grafen haben nicht alle Eurer angeheuerten Wächter gefunden“, sagte sie, erbleichend. „Das heißt, ihre Leichen. Doch Kasomir sagte mir, Eure Diener seien bei einem Dorf nahe der Senir-Brücke beigesetzt worden.“

      Eine kalte Schwere legte sich bei dieser Nachricht über das Gespräch, und ich bereute die Ungeduld, die mich veranlasst hatte, die junge Frau über ein solch unangenehmes Thema zu befragen. „Vergebt mir“, sagte ich. „Ich sollte diese Angelegenheit mit Kasomir besprechen. Man sagte mir, er sei in der Stadt.“

      „So ist es, Euer … Varian“, verbesserte sie sich. „Bei unserer Rückkehr erfuhren wir, dass Kavapesta von einer Seuche heimgesucht wird. In Abwesenheit seines Onkels hat Kasomir den Fluss überquert, um sich mit den Herren der Stadt zu beraten. Er wird noch vor Einbruch der Nacht zurückkehren.“

      „Ich