(Foto: Julia van Loo)
NOTFALLVERMEIDUNG
und ERSTE HILFE
(Foto: Julia van Loo)
Erste Hilfe für Pferde ist zweifellos ein wichtiges Gebiet, auf dem der Pferdehalter, der Reiter oder der Pferdefreund sich auskennen sollte. Erste Hilfe ist immer praktisch und lässt sich nicht nur theoretisch aus einem Buch lernen. Mein Ziel ist es, den Lesern die wichtigsten theoretischen Grundlagen der Ersten Hilfe verständlich zu vermitteln und Anregungen zu geben, praktische Fertigkeiten zu üben. Zudem ist es mein ausdrückliches Anliegen, Ihnen die Gefahren für unsere Pferde so deutlich zu machen, damit Sie Vorsorge treffen können und Ihre frisch erworbenen Ersthelferkenntnisse nicht zur Anwendung kommen müssen. Über mehrere Jahre habe ich Kurse angeboten mit den Titeln „Erste Hilfe für Pferde“ und „Gefahren für mein Pferd erkennen und vermeiden“. Aber nur der erstgenannte Kurs stieß auf Interesse. Dennoch entstehen die allermeisten Notfälle durch Umstände, die hätten vermieden werden können. Aus Leichtsinn, Übermut, Unaufmerksamkeit, Faulheit, Geiz oder eben Unkenntnis oder Ignoranz. Notfallvermeidung ist daher wichtiger und leichter als Erste Hilfe. Erste Hilfe wird dennoch immer gebraucht − auch bei größter Umsicht geschehen Unfälle und dumme Zufälle.
Sie werden lernen, Situationen richtig einzuschätzen, sorgfältig und sachkundig die Dinge zu tun, die im Einzelfall nötig sind, und Unnötiges zu unterlassen. Übertriebener Aktionismus und blinder Eifer schaden mehr, als sie nützen. Sie werden in der Vorstellung trainieren, souverän zu bleiben und Ihren Kopf nicht auszuschalten − wenngleich es Situationen gibt, in denen man lieber schreiend davonlaufen möchte.
Trainieren Sie, Ihre Sicherheit und die Ihrer Helfer im Auge zu behalten, in die Ecke gedrückt nützen Sie keinem. Üben Sie, Situationen zu beschreiben − zum Beispiel am Telefon für Tierarzt und Feuerwehr. Schaffen Sie sich und Ihrem Pferd gute Bedingungen und lassen Sie in Ihrem Bemühen nie nach.
Natürlich können Sie einiges selbst machen. Jetzt schon und nach dem Lesen noch mehr oder besser. In echten Notfällen werden Sie dennoch immer die Hilfe eines Tierarztes benötigen. Ihre Aufgabe ist die Betreuung des Patienten bis zu seinem Eintreffen, die Unterstützung seiner Arbeit und die liebevolle Nachsorge − am Patienten, nicht am Tierarzt.
Gesund für Pferde ist es, so pferdegerecht wie möglich zu leben − bei jedem Wetter mit Freunden draußen! (Foto: Julia van Loo)
Apropos Tierarzt: Ich selbst bin Fachtierärztin für Pferde und überzeugt, dass es in der fachlichen und menschlichen Eignung für diesen Beruf keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Ich werde der Lesbarkeit halber im Text weiter „der Tierarzt“ als Oberbegriff für alle Tierärzte und Tierärztinnen benutzen. Ebenso verhält es sich mit dem Pferdehalter, dem Tierheilpraktiker und dem Stallbesitzer. Des Weiteren werde ich die Patienten nicht nach Stockmaß oder Nutzung unterscheiden. Ein verletzter „wertloser“ Ponywallach empfindet die gleiche Panik und den gleichen Schmerz wie sein großer Bruder mit sportlichem Erfolg. Das Pferd ist der Oberbegriff für ein oder mehrere Pferde oder Ponys.
Im Einzelfall kann eine Unterscheidung wichtig sein, wenn man beurteilen muss, welche Zukunft der Patient hat und ob jemand bereit ist, Geld und Zeit in ihn zu investieren. Dazu kommt aus dem Tierschutz der Gedanke, ob eine Therapie sinnvoll und für das Pferd zumutbar ist. Das müssen Sie aber nicht allein entscheiden. Geholfen werden sollte erst einmal jedem verletzten Pferd.
Ärger kann es immer geben, wenn Besitzer die Kosten nicht tragen wollen oder können, die sie durch Anrufen des möglicherweise „falschen“ Tierarztes hervorgerufen haben. Solcher Ärger ist aber selten, und die Vorwürfe, die Sie sich machen, wenn Sie etwas für das Pferd zu tun versäumen, sind erheblich. In erster Linie geht es darum, Leben zu erhalten, Schmerzen zu nehmen und Schaden zu minimieren. Alles andere ist „nur“ Geld. Ich hoffe, Sie profitieren von diesem Buch, und Ihr Pferd erlebt den echten Notfall nie.
Eigene Voraussetzungen
Ruhig zu bleiben ist das Wichtigste. Verschaffen Sie sich zuerst einen Überblick:
+ Was ist passiert?
+ Was wird schlimmstenfalls gleich passieren?
+ Sind Menschen verletzt oder unmittelbar in Gefahr?
+ Sind Tiere verletzt oder unmittelbar in Gefahr?
+ Wann in etwa ist es passiert?
+ Wer kann helfen?
+ Was kann ich tun?
+ Was benötige ich?
+ Habe ich mein Handy dabei, habe ich Empfang oder wo kann ich telefonieren?
Beantworten Sie diese Fragen am besten noch während der Schrecksekunde. Werden Sie nicht hysterisch. Damit haben Sie die wichtigste persönliche Voraussetzung erfüllt. Sie sind gelassen, souverän und bleiben Herr der Lage. Machen Sie sich vorher klar, was Sie können. Wenn Sie zum Beispiel kein Blut sehen können, telefonieren Sie und delegieren die Versorgung des Patienten. Sollten Sie unter Stress stottern, telefonieren Sie besser nicht, sondern delegieren das. Sind Sie klein, weiblich und verfügen über wenig Körpermasse, lassen Sie andere an den Leinen ziehen. Sind Sie groß und stark, dann seien Sie nicht feige. Sie werden gebraucht. Es geht nicht darum, jemanden zu diskriminieren, aber das, was man zu mehreren erreichen kann, wird besser, wenn jeder tut, was er am besten kann: Einer muss telefonieren, jemand sollte sich um die betroffenen Menschen kümmern, einer muss das Pferd zu beruhigen versuchen, noch einer soll an der Straße als Posten stehen, um Zeitverzögerung beim Auffinden zu vermeiden. Wenn Sie allein sind, verlassen Sie das Pferd nach Möglichkeit nicht, entfernen Sie auch nicht alle anderen Pferde. Entfernen Sie Sattelgurt oder Ähnliches nur, wenn Sie es nicht eventuell noch brauchen können. Hoffentlich haben Sie ein funktionstüchtiges Handy.
Bringen Sie sich nicht in Gefahr. Auch wenn das Pferd Sie kennt und normalerweise nicht ausschlägt, ist dies doch ein Ausnahmezustand und das Pferd hat Angst oder gar Panik und Schmerzen. Es reagiert plötzlich und unkontrollierbar. Wenn Sie verletzt werden, können Sie nicht mehr helfen, und die nächsten Helfer bemühen sich zunächst um Sie. Vergessen Sie nie, über welche Kräfte ein Pferd verfügt.
Schön, wenn jederzeit zweckmäßige Kleidung getragen wird … (Foto: Anke Rüsbüldt)
Um sinnvoll helfen zu können, benötigen Sie die Kompetenz, den Zustand des Pferdes richtig einschätzen zu können und in Ihrem Handeln Prioritäten zu setzen. Diese Kompetenz erwerben Sie zum Teil eben jetzt durch Lesen, zum Teil durch Erfahrungen und zum Teil durch gezielte praktische Übungen. Um Erste Hilfe leisten zu können, brauchen Sie einige technische Fertigkeiten, die Sie üben können und sollten − beispielsweise das Anlegen von Verbänden oder das Handhaben nötiger Zwangsmittel. Vielleicht organisieren Sie einmal einen speziellen Erste-Hilfe-Kurs mit Ihrem Tierarzt, einem ausgebildeten Pferdesanitäter oder einem Tierheilpraktiker.
Sie sollten feste und rutschfeste Schuhe und lange Hosen tragen. Eventuell benötigen Sie Handschuhe. Im Sommer in Shorts und Sandalen zu laufen, ist angenehm und hübsch, aber im Zweifelsfall unbrauchbar. Gewöhnen Sie sich im Alltag bei den Pferden an, Kleidung und Schuhe zu benutzen, die auch außergewöhnlichen Belastungen gewachsen sind.