»übersprungen« werden könne, ist es quasi unumgänglich, daß sich im Rahmen der Revolution selbst eine evolutionäre Dynamik der einzelnen Phasen entwickelt. In dieser Hinsicht konnte sich die jakobinische Diktatur erst dann etablieren, nachdem die Girondisten die Anhänger der konstitutionellen Monarchie gestürzt und nachdem diese formal den Untergang des Ancien Régime herbeigeführt hatten. Die Radikalität verändert sich also im Zuge der objektiven Entwicklung, diese aber wird ihrerseits von den aufeinanderfolgenden Stadien des evolutionären Radikalisierungsprozesses bestimmt.16
Die Anziehungskraft dieses Paradigmas liegt in der ihm innewohnenden dialektischen Verbindung der nüchternen Analyse menschlicher Beziehungen im gesellschaftlichen Kollektiv mit der emanzipatorischen Verheißung einer möglichen Zukunft dieser Beziehungen. Es wundert daher nicht, daß die sozialistischen Historiker der Französischen Revolution und ihre Kollegen marxistisch-leninistischer Provenienz17 in ihm eine feste Basis für die Interpretation der Revolution als einem für die weiteren historischen Entwicklungen höchst einflußreichen Modell fanden, denn »erst nach 1789 kam der Gedanke auf, daß das Ziel einer politischen Revolution die soziale Emanzipation aller Menschen, die Umwandlung der Gesellschaftsstruktur selber, sei.«18
Andererseits genügte es, das Axiom des marxistischen Paradigmas (wonach die materielle Basis als Determinante zu erachten sei) in Zweifel zu ziehen, um zu einer völlig anderen Bewertung des Wesens der Französischen Revolution zu gelangen. In der wohl provokantesten Form vollzog dies François Furet und rief somit eine für die Fragestellung höchst relevante, wenn auch zuweilen polemische Debatte ins Leben.19 Nach Furets Auffassung handelt es sich bei der Französischen Revolution in erster Linie um eine politische Revolution. Er hat den Antagonismus zwischen den Abgeordneten der Nationalversammlung (die »Gesetze im Namen des Volkes, das sie angeblich vertreten«, machen20) und den Männern in den Sektionen und den Klubs (die »[das Volk] sind«21) im Auge, wenn er postuliert: »Das geläufigste Mißverständnis in der Historiographie der Französischen Revolution besteht darin, diese Zweiteilung auf einen sozialen Gegensatz zu reduzieren, indem man im voraus einer der rivalisierenden Mächten das zubilligt, was eben gerade das unbestimmte und buchstäblich ungreifbare Streitobjekt des Konflikts ist, nämlich das Vorrecht, den Volkswillen darzustellen.«22 Wenn also ein A.S. Manfred davon ausgeht, daß die Jakobiner als Partei des Bürgertums, der Bauern und der städtischen Plebejer das französische Volk vertraten, weil diese gesellschaftlichen Schichten eben die Majorität in ihm ausmachten23, so sieht Furet in der Konstruktion einer solchen »Volksfront« zur Zeit der Regierung des Wohlfahrtsausschusses eine »Scheinerklärung der politischen Dynamik der Französischen Revolution«, welche durch die Reduktion des Politischen auf das Soziale gerade das »normalisiert«, was es zu erklären gilt, »nämlich, daß die Revolution diese Symbolik in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellte und daß die Machtkonflikte vorläufig durch sie und nicht durch die Klasseninteressen entschieden werden.«24 Eine solche Auffassung widerspricht auch der auf Plechanows Erörterungen fußenden Erklärung J.Sachers, wonach jeder Klassenkampf ein politischer sei, mit der entsprechenden Folgerung, die Sansculotten hätten sich mittels ihres politischen Kampfes die Erfüllung ihrer sozialen Aspirationen erhofft.25
Nicht nur hinsichtlich der direkten ideologischen Implikationen, sondern auch für die Strukturanalyse der revolutionären Anfangsphasen erweist sich Furets paradigmatische Modifikation als höchst bedeutungsvoll. Wenn, beispielsweise, Manfred die »künstliche Zergliederung des lebendigen Gewebes des historischen Prozesses« beklagt und (im Gegensatz zu den sozialistischen Historikern Frankreichs, welche die Zeit zwischen 1789 und 1794 in verschiedene Entwicklungsstadien untergliedern) deklariert, daß diese Zeit »einen einzigen, unteilbaren revolutionären Prozeß« bilde26, so sprechen Furet und Richet von drei schon im Sommer 1789 stattfindenden, verschiedenen und voneinander unabhängigen Revolutionen27: der Revolution der Abgeordneten in Versailles, der Revolution der kleinbürgerlichen Schichten in der Stadt und der Revolution der Bauern auf dem Land, wobei man wenigstens die zwei letzten dieser Revolutionen einer alten »Tradition« von Handwerker-, Gesellen- und Bauernrevolten zuzuordnen habe.
Diese Hervorhebung ist gewichtig, denn es deuten sich in ihr zwei weitere kontroverselle Aspekte der historiographischen Debatte an: das Problem der Ursachen der Revolution und die Frage nach dem Stellenwert der Revolution in der historischen Kontinuität. Auch in diesem Zusammenhang sind jedoch die Unterschiede nicht in den Fakten oder Befunden zu suchen, sondern vielmehr in den sich widersprechenden Interpretationen, welche ihrerseits wiederum von den unterschiedlichen paradigmatischen Ansätzen herrühren; die Ursachen der Revolution28 stellen sich hierbei als weniger umstritten heraus als die Bedeutungen, die ihren Auswirkungen beigemessen werden.
So beschreibt z.B. Markov ein engmaschiges Netz von wirtschaftlichen, politisch-sozialen und institutionellen Konfliktherden im Ancien Régime (und Mathiez spricht von dem sich täglich »vertiefenden Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und den Gesetzen, zwischen den Einrichtungen und den Sitten, zwischen dem Geist und dem Buchstaben«29), um resümierend zu folgern, daß das Unterfangen, jenen Staat »mit den Mitteln einer rationalen, d.h. in der Sache also bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung leistungsfähiger zu gestalten, ohne seinen feudalen Klassencharakter anzutasten«, einer »Quadratur des Kreises« gleiche.30 Die historisch-materialistische Schule vertritt also die Auffassung, daß die einzelnen antagonistischen Erscheinungen objektiv als Hebel zur Zerschmetterung von Struktur und Gestalt des alten feudalen Staates dienten – dies zumindest von jenem Zeitpunkt an, wo das Bürgertum genügend entwickelt und konsolidiert war, um die Beseitigung der Diskrepanz zwischen seiner wirtschaftlichen und seiner konkreten politischen Macht anzustreben.31 Andererseits sind sich auch marxistische Verfasser dessen bewußt, daß man den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht als ein kurzfristiges revolutionäres Ereignis begreifen könne:
»Als bürgerliche Revolution bildet die Französische Revolution nicht selbst einen solchen Übergang, vielmehr wird dieser erst durch die Industrielle Revolution zwischen 1830 und 1860 vollzogen […]. Aber indem die Revolution das Gesellschaftssystem des Ancien Régime und gleichzeitig auch das damit verbundene absolutistische Staatswesen zerstörte, ebnete sie den Weg […] und verwirklichte sie die notwendigen Voraussetzungen für den Aufschwung des liberalen Kapitalismus.«32
Diese makrohistorische These des Marxismus rief eine besonders heftige Kritik hervor.33 Furet rechnet in diesem Zusammenhang mit der Vulgarisierung der Marxschen Lehre in der Historiographie der Französischen Revolution ab, indem er behauptet, sie stelle »die Welt auf den Kopf«, weil sie außerstande sei, sich von den Illusionen und Werten des historischen revolutionären Bewußtseins zu lösen. Das Ergebnis sei ein Versäumnis, gerade »das radikal Neueste und Geheimnisvollste an der Französischen Revolution« zu erfassen, denn weder der Kapitalismus noch die Bourgeoisie hätten, um sich auszubreiten und die wichtigsten europäischen Länder des 19. Jahrhunderts zu beherrschen, Revolutionen nötig gehabt: »Aber Frankreich ist das Land, das durch die Revolution die demokratische Kultur erfindet und das der Welt einer der grundlegenden Bewußtseinslagen des historischen Handelns offenbart.«34 Im ersten Teil dieser Äußerung kommt die Annahme zum Ausdruck, der Feudalismus als soziales und wirtschaftliches System habe schon in der Periode vor der Revolution und ohnehin in dieser selbst keinen Bestand mehr gehabt, und daß von daher der Gebrauch des Begriffs »Feudalismus«, sowohl in der Revolutionszeit als auch in der nachmaligen Interpretation, die Erfassung des Prozesses konzeptuell entstelle. Albert Soboul hingegen akzeptiert zwar die Ablehnung des Vergleichs des mittelalterlichen Feudalismus mit den herrschenden Zuständen um 1789, er besteht gleichwohl aber darauf, daß »für die Zeitgenossen, die Bürger und noch mehr für die Bauern dieser abstrakte Begriff eine Realität umschloß, die ihnen sehr bekannt war (Feudalrechte, lehensherrliche Gewalt) und die schließlich hinweggefegt wurde.«35
Die Debatte um diesen Aspekt der Revolutionsinterpretation spiegelt ein grundlegendes Mißverständnis in bezug auf die Bedeutung der Französischen Revolution bei Marx und Engels wider. Dieses Mißverständnis hängt mit dem Gebrauch des Begriffs »bürgerliche Revolution« zusammen, und nach Eberhard Schmitt stehen in dieser Hinsicht Furet und Richet den »beiden Klassikern der materialistischen Geschichtsschreibung«