A.H. Almaas

Essentielle Verwirklichung


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einer intimen Liebesbeziehung ist die Sehnsucht danach, eine bestimmte Beziehung zu aktualisieren, die ihr in der frühen Kindheit mit eurer Mutter hattet. Als ihr ein Baby, etwa vier oder fünf Monate alt wart, wart ihr in einem Zustand, den man „symbiotische Einheit“ nennt. In diesem Zustand wart ihr essentiell mit eurer Mutter verschmolzen. Es gab noch kein Gefühl von „Ich bin ich“ und „Du bist jemand anders“. Es gab nur totale, nichtdifferenzierte Einheit mit wunderbaren, lustvollen, warmen, schmelzenden Empfindungen. Wenn ihr darüber nachdenkt, was ihr in einer Beziehung wollt, werdet ihr also gewöhnlich finden, daß ihr dem anderen Menschen so nahe sein möchtet, daß es nicht länger zwei Menschen, zwei getrennte Individuen gibt. Da ist eine tiefe Sehnsucht danach, in den anderen Menschen hinein zu schmelzen, ohne Grenzen, so daß da nicht einmal mehr zwei Menschen sind, die einander lieben; da ist nur ein Zustand von Liebe. Es ist wie ein großer Teich – ein wunderbarer, goldener Teich – wie Honig, durch den die Sonne hindurchscheint. Ein goldener Schoß. Ihr fühlt euch sicher, geschützt, schmelzend; euer Körper ist ganz Lust, euer Kopf existiert nicht mehr, alles ist ganz wunderbar. Und weil wir diese Erfahrung in unserer Kindheit mit der Mutter hatten, sind wir sehr tief davon überzeugt, daß wir diesen Zustand nur mit einem anderen Menschen wieder haben können. Wir suchen also nach dem richtigen Menschen, diesem Jemand. Genau genommen suchen wir nach diesem Gefühl von Verschmelzen, nach diesem goldenen, schmelzenden Gefühl.

      Aber wir haben nicht gesagt, wie wir das erreichen können, ohne dabei „von dieser Welt“ zu sein. Gut, zuerst müssen wir verstehen, daß der Zustand vollständiger Verschmelzung, von vollkommenem Verschwinden in eine schmelzende Art von Lust ein Zustand von Essenz ist. Und ihr könnt diesen Zustand ganz für euch allein haben. Ihr müßt nicht mit jemand anders zusammen sein, um diesen Zustand zu haben. Ihr könnt diesen Aspekt von Essenz für euch allein erfahren, überall – mit eurer Katze, mit dem Teppich, mit eurem Auto oder mit einem anderen Menschen – mit irgendetwas. Aber unser Glaube, daß wir jemanden brauchen, um dieses goldene verschmelzende Gefühl zu haben, ist sehr stark. „Wenn ich einfach nur in deinen Armen schmelzen könnte, wenn du mich einfach liebtest, wäre alles wunderbar.“ Ihr glaubt, das ist es. Für die meisten Menschen ist es leichter, den Zustand der Verschmelzung mit jemand anders zu erfahren, weil für sie die Tatsache, daß man jemanden hat, die Bedingung für diesen Zustand ist. Aber die Suche richtet sich in Wirklichkeit auf einen bestimmten Aspekt von Essenz. In diesem Fall also bedeutet „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“ sein nicht, daß ihr Beziehungen einfach vergeßt und euch irgendwo eine Höhle sucht oder zum Nordpol wandert und mit den Eisbergen verschmelzt. Obwohl es in Ordnung ist, wenn ihr das tut, wenn ihr wollt. Es ist nicht wirklich wichtig. Wichtig ist, was immer ihr auch tut, ob ihr in einer Beziehung seid oder nicht, daß ihr in euch hineinschaut und herausfindet, welche Barrieren euch davon abhalten, den Teil von euch zu erfahren, der sich verschmolzen und schmelzend fühlen kann, unabhängig davon, mit wem ihr gerade zusammen oder wo ihr seid.

      Die Sehnsucht nach diesem essentiellen Zustand wirkt nicht nur in Paarbeziehungen, sondern auch in dem Wunsch, Kinder zu haben; Menschen möchten diesen Zustand der Verschmelzung mit einem Kind erleben.

      Wenn Menschen nach ästhetischen Erfahrungen suchen – schönen Landschaften oder ähnlichem –, dann wollen sie in Wirklichkeit das Gefühl haben, mit dem zu verschmelzen, was um sie herum ist. Sie glauben, daß die eine oder andere Bedingung erfüllt sein muß. Beziehungen können also ein Schmelztiegel sein, in dem man eine bestimmte goldene Substanz entdecken kann.

      Ich habe zufällig zwei Beispiele gegeben, die eng miteinander zusammenhängen. Das erste Beispiel hat mit Unabhängigkeit zu tun, mit Ich-selbst-sein, und bringt das Thema der Identität zur Sprache – den persönlichen Aspekt von Essenz. Das andere Beispiel hat mit Beziehungen zu tun und zeigt den Konflikt zwischen der Tatsache, daß man ein getrenntes Selbst ist, und dem Verschmelzen, bei dem man oft das Gefühl hat, die Identität zu verlieren.

      Um herauszufinden, was wirklich da ist, achtet ihr darauf, wie ihr in eurer aktuellen Situation in der Welt da seid, und das ist ein entstelltes Spiegelbild der wahren Sachlage. Eure Karriere, eure Interessen und Beziehungen sind sehr wichtig – aber sie sind nur insofern wichtig, als sie euch zu tieferem Verständnis von euch selbst führen.

      Der Zenmeister Hakuin wurde von seinen Nachbarn als jemand gepriesen, der ein reines Leben lebte.

      Ein schönes japanisches Mädchen, dessen Eltern ein Lebensmittelladen gehörte, lebte in seiner Nähe. Plötzlich entdeckten ihre Eltern, aus heiterem Himmel, daß sie schwanger war.

      Das ärgerte sie. Das Mädchen wollte nicht sagen, wer der Vater war, aber nach langem Drängen nannte sie schließlich Hakuin.

      In großer Wut gingen die Eltern zu dem Meister. „Tatsächlich?“ war alles was er sagte.

      Nachdem das Kind geboren war, wurde es zu Hakuin gebracht. Mittlerweile hatte er seinen Ruf verloren, was ihn nicht störte, aber er kümmerte sich sehr um das Kind. Er beschaffte sich Milch von den Nachbarn und alles, was das Kind sonst noch brauchte.

      Ein Jahr später konnte die junge Mutter es nicht länger aushalten. Sie sagte ihren Eltern die Wahrheit – daß der wirkliche Vater des Kindes ein junger Mann war, der auf dem Fischmarkt arbeitete. Die Mutter und der Vater des Mädchens gingen sofort zu Hakuin, um ihn um Verzeihung zu bitten, sich ausführlich zu entschuldigen und das Kind zurückzuholen.

      Alles ändert sich dauernd. Manchmal geht es ihm schlecht, manchmal gut. Es ist ihm gleich. Für ihn macht es keinen Unterschied. Es hat nichts damit zu tun, wer er ist. Wer er ist, ist immer gleich. Was um ihn herum geschieht, ist unwichtig. Er ist immer der, der er in Wahrheit ist.

      Eure Essenz ist sehr intelligent und sehr großzügig. Es ist ihre Art, euch einen Konflikt vor die Füße zu werfen, damit ihr dadurch, daß ihr den Konflikt oder die Barriere anschaut, etwas herausfindet, was ihr wissen müßt. Die Situation, die euch so gegeben wird, ist hinsichtlich Timing, Ort, den involvierten Menschen, euren Fähigkeiten, den Fähigkeiten der Menschen um euch herum und allem anderen bis zu jeder Einzelheit, perfekt. Die Situation ist so, daß ihr, wenn ihr sie wirklich zu verstehen versucht, etwas von eurer Essenz verstehen werdet. Sie ist nicht dazu da, euch das Leben schwer zu machen. Es wird nur schwer für euch, wenn ihr nur die Manifestation, nur den Konflikt selbst als ein Problem anschaut. Wenn ihr sie aus der Perspektive des Ego, der Identifikation anschaut, dann werdet ihr leiden und leidet weiter. Wenn ihr aber seht, daß ihr auf euer Gesicht fallt und dann leidet, weil ihr über etwas gestolpert seid, das euch im Weg lag, als ihr nicht hingeschaut habt, dann werdet ihr mehr über das, was war, mehr über diese Barriere herausfinden wollen.

      Was wir hier tun, ist also, die Barrieren anschauen, die ihr in diese Gruppen mitbringt, um an ihnen zu arbeiten. Wir nehmen sie auseinander, analysieren sie, untersuchen, woher sie stammen, aus eurer Kindheit, euren Beziehungen und eurem Leben jetzt in dieser Welt. Und aus diesem Material gewinnen wir mit der Zeit das wirkliche und kostbare Metall, oder die Edelsteine, die darin verborgen sind. Deshalb gibt es dieses ganze Material überhaupt. Ihr glaubt, daß ihr dadurch, daß ihr an eurem Thema von Unabhängigkeit arbeitet, schließlich unabhängig und in der Lage sein werdet, euch selbst zu unterstützen, eine Menge Geld zu verdienen, zu tun, was ihr wollt und so weiter. Das ist alles wahr, aber es ist nicht der wichtigste Faktor. Der wichtigste Aspekt besteht darin, etwas in euch zu entwickeln. Dann folgt das Übrige fast ohne Anstrengung.

      Also „in der Welt, aber nicht von dieser Welt.“ Wir leben in der Welt und wir tun, was jeder andere tut: Kleider tragen, essen, in den Gemüseladen gehen, einen Beruf haben, sich lieben, sich streiten, alles. Doch unser Fokus ist anders. Wir identifizieren uns nicht mit dem Teil von uns, der ißt, einkauft, arbeitet und so weiter. Wir lernen, die Fähigkeit zu entwickeln, sich dessen bewußt zu sein, was geschieht, sich aber zur gleichen Zeit nicht damit zu identifizieren; wir entwickeln das, was wir Bewußtheit und Desidentifikation nennen. Wie ihr wißt, sind dies die wichtigsten Dinge, die ihr braucht, um mit der Arbeit, euch selbst zu verstehen, voranzukommen. Ihr müßt euch dessen bewußt sein, was in euch und außerhalb von euch geschieht. Die Welt ist wie ein großes Klassenzimmer, und die Situationen, in die ihr in der Welt geratet, sind eure Fächer, in