Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Band 31: Splitterzeit


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      Er hatte Artus zu seiner Waffe gemacht und alles zerschmettert, was ihnen nach Merlins Machtergreifung geblieben war.

      »Wer wird noch da sein?«, flüsterte Jen jetzt direkt an Alex‘ Ohr.

      Sein Körper nah an ihrem zu spüren, tat so gut, sein Geruch, seine Präsenz. Als reine Seele war sie ihm nah gewesen, kannte ihn nach diesem Erlebnis bis zum letzten Funken seines Seins. Er sie ebenso.

      »Ich weiß es nicht«, sagte er.

      Zwischen den Wirbeln des Sandes erschienen immer mehr Szenen, die zerstört wurden.

      Ihre Reise endete abrupt.

      Und eine neue Gegenwart nahm sie auf.

      Der Sandsturm ebbte abrupt ab. Sie standen auf einer gewöhnlichen asphaltierten Straße.

      Jen blinzelte verwirrt. Der Übergang war kein Fall, kein Taumeln, sie waren einfach da. Doch wo? Und vor allem: wann?

      Alex hielt sie noch immer im Arm, löste sich langsam von ihr. »Bist du okay?«

      »Ich denke schon.« Sie erwiderte seinen Blick.

      Für einige Sekunden blieben sie so stehen, genossen die wiedergewonnene Möglichkeit, sich zu berühren, zu spüren. Seit dem Kampf bei Glamis Castle war das vorbei gewesen, Jens bewusste Existenz hatte dort geendet.

      »Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm«, sagte Alex.

      Sie lösten sich voneinander und blickten sich um. Der Asphalt war glatt und sauber, die Hausfassaden ebenso. In der Ferne führte eine dicht bevölkerte Hauptstraße vorbei, Jen erkannte Menschen. Sie trugen die Kleidung der Gegenwart.

      »Vielleicht«, sagte sie nur.

      An ihrem Gürtel hing der neue Essenzstab, den Alex bei den Kuyakunga für sie geschaffen hatte. Ein Whisperband besaß sie noch nicht, einzig an Alex’ Handgelenk zeigten sich die tätowierten Symbole. »Kannst du Kevin oder Artus erreichen?«

      Er fixierte das Band mit seinem Blick, genauer: bestimmte Symbole darin. »Keinen von beiden. Vielleicht sind sie bewusstlos oder irgendwie anders abgeschirmt. Ehrlich gesagt will ich nicht in Kevs Haut stecken, wenn Artus ihn in die Finger bekommt.«

      »Da hast du …« Jen taumelte, musste sich an der Wand abstützen. »Mein Sigil.«

      Alex riss die Augen auf. »Es ist stärker.« Er schluckte. »Hier gibt es keinen Wall.«

      »Er hat es wirklich getan«, flüsterte Jen. »Ich kann es irgendwie noch nicht fassen. Eine Welt ohne Wall. Was bedeutet das?«

      »Wir werden es wohl gleich erfahren.« Alex nickte in Richtung Hauptstraße.

      Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Autos sah Jen nicht, dafür umso mehr Menschen. Sie gingen zielstrebig den Bürgersteig entlang, einige tippten auf ihren Smartphones herum, andere hörten Musik. Alles wirkte wie immer.

      »Dort vorne«, er deutete auf einen Kiosk mit breiter Auslage. »Die gute alte Zeitung ist eben doch zu etwas zu gebrauchen.«

      Sie erreichten den Stand. Hinter einem kleinen Verkaufstresen lugte ein Mann zu ihnen heraus. Aus seinen Nasenlöchern ragten Haare, die ihm auf dem Kopf vollständig fehlten. »Wie darf ich helfen?«

      Jen betrachtete eine der Zeitungen. Das Datum stimmte. Seit Alex’ Aufbruch waren nur wenige Tage vergangen. »Das sieht gut aus. Die Zeit ist eindeutig korrekt.« Erst mit etwas Verspätung registrierte sie die Schlagzeile. »Das Höchste Haus von Australien stellt sich offen gegen Nordamerika. Es wird erwartet, dass die beiden Hochmagier in Kürze den Krieg ausrufen.«

      »Oh, Shit.« Alex tastete nach der Zeitung.

      Ein gelblicher Blitz traf seine Finger.

      »Das wären dann fünf Bernsteinkörner«, sagte der Alte.

      »Bitte was?«, gab Alex patzig zurück und hielt sich die Hand.

      Der Verkäufer blinzelte ob des scharfen Tons. Sein Blick taxierte zuerst Jen, schließlich Alex. Er wurde bleich. »Das tut mir aufrichtig leid, ich löse das Feld natürlich umgehend. Verfahrt mit mir, wie es Euch beliebt.«

      Jen stöhnte auf. Der Mann zeigte nackte Angst, und es war ziemlich eindeutig, weshalb. »Das wird nicht nötig sein.« Sie packte Alex und zog ihn davon.

      »Aber was ist mit der Zeitung«, sagte er verdattert.

      Kurzerhand bekam er einen Klaps auf den Hinterkopf, was ihr überraschend guttat. »Der arme Kerl ist beinahe umgefallen. Das war ein Nimag und er hatte definitiv Angst vor uns Magiern. Vermutlich ist der arrogante Ton da sehr leicht zuzuordnen. Und dann das Zahlungsmittel.«

      »Bernstein.« Alex nickte. »Vor dem Wall wurde es genutzt. Aufgeladen mit Magie, hat es den Nimags damals ermöglicht, selbst fest installierte Zauber auszuführen. Sieht so aus, als hätte sich das bis in diese Zeit gehalten.«

      Die Menschen kannten Magie, wussten, was sie war. Irgendwie hatte sich trotzdem eine ähnliche Zivilisation entwickelt, allerdings unter gänzlich anderen Machtstrukturen.

      »Da stand etwas von Höchstem Haus«, sagte Jen. »Das klingt für mich, als hätten Magier hier kurzerhand die Kontrolle übernommen.«

      Sie glitten durch die Menge, und erst nach einigen Schritten bemerkte Jen, dass die Nimags ihnen instinktiv auswichen. Ein Mann erschrocken, eine Frau hastig.

      »Wundert es dich?«, fragte Alex. »Vor dem Wall hat der Rat für Ordnung gesorgt, aber viele Magier haben sich Fürsten und Kaisern angedient. Das Ganze musste doch irgendwann eskalieren. Ich will gar nicht wissen, wie die Weltkriege ausgesehen haben. Überall Magier mit im Spiel, Artefakte und besondere Talente. Wieso sollten sich die skrupellosesten Magier Königen oder Kaisern dauerhaft unterwerfen? Irgendwann wird jemand festgestellt haben, dass es doch viel einfacher wäre, selbst zu herrschen.«

      »Aber genau das hätten die Unsterblichen doch verhindert«, sagte Jen. »Und selbst wenn es eine Art Coup d’Etat gegeben hätte, würde die Zitadelle unweigerlich Ersatz schicken. Sie sind mächtiger als wir gewöhnlichen Magier, folglich hätte es eine solche Machtverschiebung niemals geben können.«

      Unweigerlich dachte Jen an Patricia Ashwell, die genau eine solche Version der Geschichte bevorzugt hätte. Ausgerechnet Kevin hatte die Träume der verstorbenen Mutter von Clara jetzt Wirklichkeit werden lassen.

      »Mein Magen knurrt«, sagte Alex nach einer Weile.

      »Selbst in der furchtbarsten Dystopie kannst du an nichts anderes denken«, erwiderte Jen.

      »Ich will halt nicht vor Schwäche umgebracht werden«, konterte er. »Außerdem ist das hier nicht irgendeine Dystopie. Es ist die Gegenwart.«

      »Schöne neue Welt«, murmelte Jen. »Wenn Artus mit Kevin fertig ist, werde ich ihn so was von zusammenbrüllen.«

      Sie hatte noch immer Mitleid mit Kevin, selbst nach dieser von ihm angerichteten Katastrophe. Der Gedanke an Chris schmerzte auch sie jeden Tag. Doch selbst mit dem Zeitring hätte Jen es nicht versucht, ihre Mutter oder Schwester ins Leben zurückzuholen. Die Konsequenzen waren einfach zu groß. Gleich den gesamten Wall zu verhindern, Millionen von Leben dadurch zu verändern, die alte Version auszulöschen, war für sie unbegreiflich.

      Die Umgebung wirkte wie eine simple Straße im Herzen von London. Es gab hier und da Schaufenster mit gewöhnlichen Auslagen, sah man von den Preisschildern ab. Alles wurde in Bernsteinkörnern und Bernsteinbrocken bemessen. Für einige sehr edle Kleidungsstücke wurden Bernsteine mit eingewobenem konstanten Zauber gefordert.

      »Schau dir das an«, sagte Alex. »Für diesen Designeranzug wollen die einen Bernstein mit Flugzauber, der mindestens vierundzwanzig schwerelose Stunden ermöglicht.«

      Jen wunderte