Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe


Скачать книгу

Wesen dort erfüllt ist, zu zeigen und zu deuten – zugleich mit der Richtung auf ihr Ziel, die himmlische Gemeinschaft der Glückseligen, die er in seiner Dichtung geahnt hat – aber doch nicht bis in das Innere des Gottesreiches hinein, denn der Sinn seiner Ahnung ist ihm während seines irdischen Lebens nicht offenbart worden, und er ist ohne solche Erleuchtung als ein Ungläubiger gestorben; und so will Gott nicht, daß man durch ihn in sein Reich kommt; nur bis an die Schwelle des Reiches, nur bis zu jener Grenze, die seine gerechte und edle Dichtung zu erkennen vermochte, darf er DanteDante führen. «Du zuerst», so sagt StatiusStatius zu VergilVergil, «hast mir den Weg zum Parnaß und zu seinen Quellen gezeigt; und dann hast du mich, nächst Gott, erleuchtet. Du hast getan wie einer, der durch die Nacht geht und das Licht hinter sich trägt; sich selbst hilft er nicht, aber er belehrt die Nachkommenden. Durch dich ward ich Dichter, durch dich Christ.»48 Und so, wie er als irdische Gestalt und Wirkung StatiusStatius zum Heil geführt hat, so führt er nun, als erfüllte Figur, DanteDante: denn auch DanteDante hat von ihm den schönen Stil der Dichtung empfangen, durch ihn wird er vom ewigen Verderben gerettet und auf den Weg des Heils geleitet; und wie er einst StatiusStatius erleuchtete, ohne selbst das Licht, das er trägt und verkündet, zu sehen, so führt er jetzt DanteDante bis an die Schwelle des Lichts, von dem er nun zwar weiß, das er aber selbst nicht schauen darf.

      VergilVergil ist also nicht die AllegorieAllegorie einer Eigenschaft oder Tugend oder Fähigkeit oder Kraft oder auch einer geschichtlichen Institution. Er ist weder die Vernunft noch die Dichtung noch das Kaisertum. Er ist VergilVergil selbst. Aber er ist es freilich nicht in der Weise, wie spätere Dichter eine menschliche Gestalt in ihrer innergeschichtlichen Verstrickung wiederzugeben versucht haben: etwa wie ShakespeareShakespeare, W. den CaesarCaesar oder SchillerSchiller, F. den WallensteinWallenstein, A. v.. Diese zeigen ihre geschichtlichen Gestalten in ihrem irdischen Leben selbst, sie lassen vor unseren Augen eine bedeutende Epoche jenes Lebens wiedererstehen und versuchen aus ihm selbst seinen Sinn zu deuten. Für DanteDante ist der Sinn eines jeden Lebens gedeutet, es hat seinen Ort in der providentiellen Weltgeschichte, die ihm in der Vision der Komödie gedeutet wird, nachdem sie in ihren allgemeinen Zügen schon in der jedem Christen zuteilgewordenen Offenbarung enthalten ist. So ist VergilVergil in der Komödie zwar der geschichtliche VergilVergil selbst, aber er ist es auch wieder nicht mehr; denn der geschichtliche ist nur figura der erfüllten Wahrheit, die das Gedicht offenbart, und diese Erfüllung ist mehr, ist wirklicher, ist bedeutender als die figura. Ganz anders als bei den modernen Dichtern ist bei DanteDante die Gestalt um so wirklicher, je vollständiger sie gedeutet, je genauer sie in den ewigen Heilsplan eingeordnet ist. Und ganz anders als bei den antiken Dichtern der Unterwelt, die das irdische Leben als wirkliches, das unterirdische als schattenhaftes gaben, ist bei ihm das Jenseits die echte Wirklichkeit, das Diesseits nur umbra futurorum – freilich aber ist die umbra die Praefiguration der jenseitigen Wirklichkeit und muß in ihr sich vollständig wiederfinden.

      Denn was hier von CatoCato v. Utica und VergilVergil gesagt wurde, gilt von der Komödie im ganzen. Sie ist ganz und gar auf figuraler Anschauung gegründet. In meiner Untersuchung über DanteDante als Dichter der irdischen Welt (1929) habe ich zu zeigen versucht, daß DanteDante es in der Komödie unternommen hat, «die gesamte irdisch-historische Welt … als schon dem endgültigen Urteil Gottes unterworfen und somit an ihren eigentlichen, ihr nach dem göttlichen Urteil zukommenden Platz gestellt, als schon gerichtet vorzustellen, und zwar so, daß er die einzelnen Gestalten … nicht etwa ihres irdischen Charakters beraubt oder ihn abschwächt, sondern indem er die äußerste Steigerung ihres individuellen irdisch-historischen Wesens festhält und sie mit dem Endgeschick identifiziert» (S. 108). Für diese Auffassung, die schon bei HegelHegel, G. W. F. zu finden ist und auf der meine Interpretation der Komödie beruhte, fehlte mir damals die genaue geschichtliche Grundlage; sie ist in den einleitenden Kapiteln des Buches mehr geahnt als erkannt. Diese Grundlage glaube ich jetzt gefunden zu haben; es ist eben die FiguraldeutungFiguraldeutung der Wirklichkeit, die im europäischen Mittelalter, wenn auch in ständigem Kampf gegen reine spiritualistischeSpiritualismus und neuplatonischePlaton TendenzenNeuplatonismus, die Anschauung beherrschte: daß das irdische Leben zwar durchaus wirklich sei, von der Wirklichkeit jenes Fleisches, in das der Logos einging, aber in all seiner Wirklichkeit doch nur umbra und figura des Eigentlichen, Zukünftigen, Endgültigen und Wahren, welches, die Figur enthüllend und bewahrend, die wahre Wirklichkeit enthalten werde. Auf diese Art wird jedes irdische Geschehen nicht als eine endgültige, sich selbst genügende Wirklichkeit angesehen, auch nicht als Glied in einer Entwicklungskette, wo aus einem Ereignis oder aus dem Zusammenwirken mehrerer immer wieder neue Ereignisse entspringen, sondern es wird zunächst im unmittelbaren vertikalen Zusammenhang mit einer göttlichen Ordnung betrachtet, in der es enthalten ist und die selbst eines künftigen Tages geschehende Wirklichkeit sein wird; und somit ist das irdische Ereignis Realprophetie oder figura eines Teiles zukünftig geschehender, unmittelbar vollendet göttlicher Wirklichkeit. Diese aber ist nicht nur zukünftig, sondern in Gottes Auge und im Jenseits jederzeit gegenwärtig, so daß dort jederzeit, oder auch zeitlos, die enthüllte und wahre Wirklichkeit vorhanden ist. DantesDante Werk ist der Versuch einer zugleich dichterischen und systematischen Erfassung der gesamten Weltwirklichkeit in solchem Lichte. Dem in der irdischen Verwirrung vom Untergang Bedrohten, so ist der Rahmen der Vision, kommt die Gnade der himmlischen Kräfte zu Hilfe. Von früher Jugend an war er besonderer Gnade teilhaftig, weil er zu besonderer Aufgabe bestimmt war; früh schon hatte er in einem lebenden Wesen, in Beatrice – und hier spielen, wie so oft, Figuralstruktur und NeuplatonismusNeuplatonismusPlaton ineinander – die inkarnierte Offenbarung sehen dürfen, die ihn, wenn auch verhüllt, schon als Lebende durch den Gruß ihrer Augen und ihres Mundes und als Sterbende auf eine nicht ausgesprochene, geheimnisvolle Weise auszeichnete.49 Die Gestorbene und nun Selige, die für ihn die inkarnierte Offenbarung war, findet für den Verirrten die einzige Rettung, die es noch gibt; sie ist mittelbar, und im Paradiese unmittelbar, seine Führerin, die ihm die enthüllte Ordnung, die Wahrheit der irdischen Figuren zeigt. Was er in den drei Reichen sieht und lernt, ist wahre, konkrete Wirklichkeit, und zwar eben von der Art, daß darin die irdische figura enthalten und gedeutet ist; indem er, noch als Lebender, die erfüllte Wahrheit sieht, wird er selbst gerettet und zugleich fähig, der Welt das Gesehene zu verkünden und sie auf den rechten Weg zu weisen.

      Die Einsicht in den figuralen CharakterAllegorie u. Figuration der Komödie bietet zwar gewiß keine allgemein gültige Verfahrensweise für die Deutung jeder strittigen Stelle, allein es lassen sich doch aus ihr einige Grundsätze für die Deutung herleiten. Man darf sicher sein, daß jede in dem Gedicht erscheinende geschichtliche oder mythologische Gestalt nur etwas bedeuten kann, was mit dem, was DanteDante von ihrer geschichtlichen oder mythischen Existenz wußte, in engstem Zusammenhang steht, und zwar in dem Zusammenhang von Erfüllung und Figur; man wird sich immer davor hüten müssen, ihr die irdisch-geschichtliche Existenz ganz abzusprechen und ihr eine nur begrifflich-allegorische Deutung zu geben. Das gilt insbesondere für Beatrice. Nachdem im 19. Jahrhundert die romantisch-realistische Auffassung den Menschen Beatrice allzusehr betont hatte und geneigt war, aus der Vita Nova etwas wie einen sentimentalen Roman zu machen, hat nun ein Rückschlag eingesetzt, und man bemüht sich, immer genauere theologische Begriffe zu finden, in denen sie ganz aufgehen soll. Allein auch hier ist kein Entweder-Oder. Der Litteralsinn oder die historische Wirklichkeit einer Gestalt steht bei DanteDante nicht im Widerspruch zu ihrer tieferen Bedeutung, sondern figuriert sie; die historische Wirklichkeit wird durch die tiefere Bedeutung nicht aufgehoben, sondern bestätigt und erfüllt. Die Beatrice der Vita Nova ist eine irdische Gestalt; wirklich erschien sie DanteDante, wirklich grüßte sie ihn, wirklich verweigerte sie ihm später den Gruß, verspottete ihn, klagte um eine tote Freundin und um den Vater, und wirklich starb sie. Freilich kann es sich bei dieser Wirklichkeit nur um eine Erlebniswirklichkeit DantesDante handeln – denn ein Dichter formt und verwandelt das ihm Geschehende in seinem Bewußtsein, und nur von dem, was in diesem Bewußtsein lebt, nicht von einer äußeren Wirklichkeit, ist auszugehen. Und ferner ist zu berücksichtigen, daß auch die irdische Beatrice für DanteDante vom ersten Tage ihres Erscheinens an ein vom Himmel gesandtes Wunder ist, eine Inkarnation göttlicher Wahrheit. Das Wirkliche ihrer irdischen Gestalt ist also nicht, wie bei VergilVergil oder Cato, bestimmten Daten einer geschichtlichen Überlieferung, sondern der eigenen Erfahrung entnommen, und diese Erfahrung zeigte ihm die irdische Beatrice