weitläufige Parks, eine Handvoll Wolkenkratzer – und ein nie enden wollender Strom von Menschen: Zu Fuß, auf Motorrädern, Fahrrädern, Tuk-Tuks und Rikschas, gesprenkelt von gelben Flecken, den alten britischen Taxis, die hier noch in Gebrauch waren. Mich faszinierte Indien seit meiner ersten Reise hierher. Es war gelebte postkoloniale Improvisationskunst.
Die fast fünfzehn Millionen Bewohner des Großraums Kalkutta schienen mir des Öfteren ein einziger intelligenter Organismus zu sein. Tat sich irgendwo ein Zwischenraum auf, egal ob bei parkenden Autos oder unter einem Brückenpfeiler, führte ihn der Organismus augenblicklich irgendeinem Zweck zu. Jeder Quadratmeter wird genutzt: zum Essen oder Schlafen, zum Handeln, Streiten oder Betteln. In Kalkutta sah ich Hochzeitspaare auf vergoldeten Pferdekutschen neben abgemagerten Kindern auf der Suche nach Essen, Privathelikopter, die auf Wohnhäusern landeten und Menschen, die sich zum Sterben an den Straßenrand gelegt hatten.
Die Gleichzeitigkeit all dieser Eindrücke war ein Schock, obwohl ich nichts anderes erwartet hatte. Kalkutta steht schon seit Jahrzehnten gleichbedeutend für Armut; spätestens seit Mutter Teresa dort in den Armenhäusern gewirkt hat. Die Stadt liegt in Westbengalen, an der Ostgrenze Indiens, direkt neben Bangladesch. Man spricht dieselbe Sprache: Bengalisch. Die großen Modekonzerne lassen ihre Waren aber schon lange nicht mehr in Kalkutta herstellen, wo der Mindestlohn hundertsiebenunddreißig US-Dollar im Monat beträgt. Für die auf Gewinnmargen fixierte Textilbranche ist das zu viel. Sie ist größtenteils nach Bangladesch abgewandert. Dort ist der Mindestlohn halb so hoch.
Die Industrie von Kalkutta schien mir ein ähnliches Improvisationstalent zu haben wie seine Bewohner. Unter Zeltplanen in Hinterhöfen ratterten Nähmaschinen Jeans zusammen. In leer stehenden Bauruinen schweißten Männer Anhängerkupplungen. Und vom Highway aus sah man auf den Dächern zehnstöckiger Mietshäuser überall dampfende Blechbaracken, vor denen hauptsächlich rot und gelb gefärbtes Leder zum Trocknen auslag. Flachdächer bedeuteten wertvollen Platz. Also gerbte man dort Tierhäute, direkt neben Privatwohnungen.
Der Chef unserer Färberei, ein Bengale mit randloser Brille und dicken Ringen, begrüßte uns in seinem winzigen Büro. Es ging los mit einer kleinen Einweisung. Die bestand größtenteils aus einem Herunterrattern seines Lebenslaufs. Er hatte es, erzählte er, als erstes Kind seiner Familie auf die Universität geschafft und schließlich zum Fabrikanten mit dreißig Mitarbeitern. Die bekämen alle mehr als den Mindestlohn und seien sehr zufrieden. Ansonsten hatte er nur eine Regel für uns: Würde einem von uns schwindelig, müssten wir sofort abbrechen. Damit entließ er uns.
Neben ein paar blauen Kanistern wartete Uttam. Ein kleiner, schüchtern lächelnder Mann mit Schnurrbart. Er war Mitte dreißig, sah aber – wenn man von seinen Zahnlücken absah – zehn Jahre jünger aus. Mit ihm würde ich heute arbeiten. Ich wollte wenigstens einen Tag im Leben eines Färbers erleben.
Im Erdgeschoss der Fabrik lag die Höhle. Ein fensterloser verwinkelter Raum, schummrig beleuchtet von drei oder vier Glühbirnen. An den Wänden standen riesige malmende Maschinen und Kessel, vor oder auf denen kleine Männer in Unterhemden oder mit freiem Oberkörper herumkletterten, Pulver aus Säcken hineinschütteten, Stoffbündel herauszogen, Hebel umlegten. Es zischte, brummte und blubberte.
Ich musste an ein Gemälde von Adolph von Menzel denken, in dem er die Arbeit in einem schlesischen Eisenwalzwerk gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts festgehalten hat: Die Öfen und Walzen als düstere Monster, die sich offenbar nur mit Müh und Not von Menschen in Schach halten lassen. Das Bild dokumentiert die Brachialgewalt der frühen Industrialisierung, in der der Mensch den Maschinen zu dienen schien und nicht umgekehrt. Fast hundertfünfzig Jahre danach sind die deutschen Fabriken größtenteils heller und sauberer. Gewerkschaftskonform. Die menschenfeindliche Industrie gibt es natürlich weiterhin. Nur eben nicht mehr so sichtbar.
Quer durch die Höhle verlief im Zickzack eine offene Rinne; wie ein kleines, betoniertes Bachbett. Sie führte zu einem quadratischen Loch in der Mauer. In dieser Rinne war kein Wasser; die Arbeiter stiegen routiniert darüber hinweg. Der Sinn des Ganzen erschloss sich mir nicht, aber ich prägte mir ein, wo die Rinne verlief, um mir im Halbdunkel später nicht den Knöchel zu brechen.
Uttam blieb vor einer Maschine stehen, die im Moment stillstand. »Das ist unsere erste Aufgabe.« Ein Gebirge lose zusammengeworfener, beiger Stoffbahnen erhob sich vor uns. Das Material, wie die Spinnerei es geliefert hatte: Fünfundzwanzig Schläuche, jeder vierzig Meter lang und einen halben Meter breit. So sah also ein Kilometer Baumwolle aus. Das Tagewerk eines Färbers.
Beim Ankleiden war ich zum Glück vertrauensvoller als bei der Sache mit den Schuhen. Ohne Umschweife legte ich die komplette Sicherheitskleidung an, die Uttam mir anbot. Sie bestand aus einer Plastikfolie, die ich mir um die Hüfte band. Das war’s.
DIE FÄRBEREI IST DER GIFTIGSTE SCHRITT IN DER HERSTELLUNG VON TEXTILIEN. ES BRAUCHT HUNDERTE CHEMIKALIEN, UM BAUMWOLLE ODER KUNSTFASERN ZU FÄRBEN. DIE MEISTEN SIND GIFTIG, ÄTZEND, KREBSERREGEND, HORMONELL WIRKSAM ODER ALLES AUF EINMAL.
Die Maschine hieß in der Sprache des Färberhandwerks Haspelkufe, las ich später in einem Handbuch. So ein Ding besteht grob gesagt aus einer Wanne, in die ein kleines Auto passen würde; darüber drehen sich ein paar Walzen. In die spannten wir nun erst mal die Stoffbahnen ein, sodass die Haspelkufe sie endlos im Kreis durch die Flüssigkeit in der Wanne ziehen konnte. Im Mittelalter erledigten die Färber das noch von Hand, indem sie mit Stöcken stundenlang in Fässern herumstocherten. Insofern hätte es schlimmer kommen können.
Der Profi nennt die Flüssigkeit in der Wanne Flotte. Diese Flotte besteht zuerst mal aus einer Natronlauge. Durch sie soll sich der Farbstoff später besser an den Stoff binden. Aber nun holte Uttam die Farbe. Sie war in diesen blauen Kanistern, die vor der Tür gestanden hatten. Und schließlich schleppten wir noch einen zentnerschweren Sack Soda aus einem Nebenraum. Dann schütteten wir alles in einem Bottich zusammen. Während ich mit einer Holzlatte rührte und Uttam schüttete, dampfte und blubberte es. Ich atmete normal weiter – und übergab mich fast. Messerscharfer Chlorgeruch brannte in meinem Hals. Ich würgte, meine Augen tränten. Uttam guckte erschrocken. Wir gingen eine Runde an die frische Luft, wo wir zufällig dem Fabrikbesitzer begegneten. Er gab mir den Rat, zum Schutz vor den Dämpfen einfach den Kragen meines T-Shirts vor Mund und Nase zu ziehen. Manchmal liegt die Lösung so nah.
Die Färberei ist der giftigste Schritt in der Herstellung von Textilien. Es braucht Hunderte Chemikalien, um Baumwolle oder Kunstfasern zu färben. Die meisten sind giftig, ätzend, krebserregend, hormonell wirksam oder alles auf einmal. In deutschen Färbereien tragen die Arbeiter und Arbeiterinnen Atemschutz, Kittel, Stiefel und Handschuhe. Die Filterung des Abwassers ist aufwendig und teuer. Konsequent, dass jede Firma, die Klamotten günstig verkaufen will, diese in Asien färben lässt. So geschieht alles außer Sichtweite. Und so stiehlt man sich aus der Verantwortung.
DAS GRUNDWASSER VON KALKUTTA IST MASSIV MIT GIFTSTOFFEN AUS DER INDUSTRIE BELASTET. FÜR DEN STAAT SIND EINE MILLION TOTER FISCHE AKZEPTABLER ALS EINE MILLION GEFÄHRDETER ARBEITSPLÄTZE.
Ein paar Stunden später verstand ich auch die Funktion der Betonrinne. Die Haspelkufe hatte unseren Kilometer Stoff lange genug durch die blaue Wasser-Farb-Chlor-Lösung gezogen. Das Beige der Baumwolle war einem fast schwarzen Blau gewichen. Uttam stoppte die Walzen und legte irgendwo in den Eingeweiden der Maschine einen Hebel um. Die heiße Brühe gluckerte aus der Wanne und in den Kanal. Ein nachtblauer, schaumiger Strom schoss quer durch die Höhle, vorbei an den anderen Maschinen und Arbeitern, dem Loch in der Mauer entgegen.
Von draußen strahlte ein Spalt Sonne in die Düsternis. Ich bückte mich und sah raus. Hohe Gräser bewegten sich im Wind, dahinter verlief ein Bächlein, das ich vorher nicht gesehen hatte. Dort hinein entleerte sich jetzt mit einem Tosen der Inhalt unserer Färbemaschine. Ein paar hundert Liter Lauge verschwanden in der Natur. Mit einem metallischen Quietschen schloss Uttam die Klappe in der Maschine, nickte zufrieden und sagte: »Zeit für die Mittagspause.«
Natürlich