zum 6. Dezember 1989 als Nachfolger Erich Honeckers das Amt übernahm, erinnerte sich dreißig Jahre später an den Mauerfall: Auf der Grundlage der geltenden Verträge zwischen der DDR und der Sowjetunion hätte er die Truppen zur Hilfe rufen können. Im Oberkommando gab es durchaus Kräfte, die der Politik Michail Gorbatschows skeptisch gegenüberstanden. Aber Egon Krenz wollte keine Gewalt gegen das DDR-Volk: »Eine falsche Entscheidung in jener Nacht hätte Blutvergießen bedeutet … Für mich ist das Allerwichtigste, dass am 9. November abends nicht Blut, sondern Sekt floss.«
Dass es tatsächlich die Gefahr eines unkontrollierten Eingreifens der Sowjets gab, bestätigte ihm am 10. November 1989 deren Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow. Er erklärte: »Beachten Sie, Genosse Krenz, dass nicht alle Genossen des Politbüros, denen Sie vertrauen, auch Ihnen vertrauen. Ich versuche, einige Hitzköpfe zu beruhigen. Bedenken Sie aber bitte auch, dass ich zwar der sowjetische Botschafter bin, es gibt aber noch andere sowjetische Institutionen in der DDR, über die ich nicht Bescheid weiß.«
Für Egon Krenz stellte sich damit die Frage, ob die DDR durch die Politik Michail Gorbatschows nicht einem Verrat »an der Sache des Sozialismus« zum Opfer gefallen sei. Klar war ihm: »Die Sowjetunion stand an der Wiege der DDR, aber auch an ihrem Sterbebett.« Nach dem Fall der Mauer und ohne sowjetische Bajonette war sie nicht mehr zu halten. Trotzdem folgte Egon Krenz Anfang der 1990er Jahre nicht dem Vorwurf, Gorbatschow habe die DDR verraten. Das begründete er politisch: »Würde der Verratsvorwurf dominieren, würde uns das behindern, die objektiven Ursachen des Versagens des Sozialismus in Europa aufzudecken.«
Berlin, Hauptstadt der DDR, 7. Oktober 1989: Trotz der Unruhen im Land feiert die Führung der DDR mit einer Militärparade die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik vor vierzig Jahren. Zu Besuch ist der sowjetische Staats- und Parteichef, Michail Gorbatschow (2. v. l.), rechts neben ihm grüßt der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär Erich Honecker die an der Ehrentribüne Vorbeimarschierenden. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / ADN Zentralbild)
Seine Meinung änderte sich im Laufe der Jahre. 2019 bekannte Egon Krenz: »Es hat gedauert, bis ich Weggefährten verstand, die ihn einen Verräter nennen. Ich habe ihm vertraut. Heute weiß ich: viel zu lange.« Und: »Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat.«
So sah es auch Valentin Falin, über Jahrzehnte einer der führenden Deutschlandpolitiker in Moskau. Er bemängelte, dass sich Gorbatschow »mit Kleingeld begnügt« und nicht einmal durchgesetzt habe, »dass die NATO auf eine Osterweiterung verzichtet«. Sein Urteil: »Das war eine Variante des Münchner Abkommens, wir haben über den Kopf der DDR hinweg alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten.« Den Grund dafür sah er in Gorbatschows persönlichen Ambitionen: »Er hat nicht das Land gerettet, sondern nur seine eigene Position.«
Im Gegensatz zu Egon Krenz und Valentin Falin sah Gorbatschows Berater Georgi Schachnasarow die deutsche Einheit bereits damals vor dem Hintergrund der »Perestroika«-Politik der Sowjetunion. Er beantwortete die Frage nach Verrat und Bündnistreue so: »Wenn man vom Standpunkt des früheren Systems ausgeht, als es zwei Machtblöcke gab und jeder für seinen Teil verantwortlich und verpflichtet war, seine Verbündeten zu unterstützen, dann ja, selbstverständlich. Im Rahmen dieses Ganzheitssystems hatte die Sowjetunion ihre Pflicht nicht erfüllt. Aber im Zusammenhang mit dem Begriff des Neuen Denkens und vor dem Hintergrund der veränderten Welt galt es, sich neuen Realitäten zu stellen. Und in diesem Zusammenhang war es unsere Pflicht, so zu handeln, wie Gorbatschow es tat. Wenn das deutsche Volk beschlossen hatte, dass es in einem Staat leben wollte, dann war es sein eigenes Recht, und deswegen durften wir uns nicht einmischen.«
Ein letzter Bruderkuss, 6. Oktober 1989: Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow (links) wird nach seiner Ankunft zu den Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Staatsjubiläum der DDR in traditioneller Weise vom Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker willkommen geheißen. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
In den Geschichtsbüchern steht heute, dass Michail Gorbatschow bei seinem Besuch zum vierzigsten Jahrestag der DDR seinen SED-Genossen ausdrücklich längst überfällige Reformen ans Herz gelegt und ansonsten ihr baldiges Ende vorausgesagt habe. Dies zeige sich in dem Satz: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«
Diese Wiedergabe stammt vom Dolmetscher Helmut Ettinger, die genauen Worte Gorbatschows gelten heute als nicht nachvollziehbar.
Genau belegt ist hingegen, was der KPdSU-Generalsekretär dem SED-Politbüro am 7. Oktober 1989 im Schloss Niederschönhausen wortwörtlich sagte. Es klang bei weitem nicht so dramatisch.
Zunächst lobte Gorbatschow Erich Honecker und die anderen Anwesenden: »Ihr ganzes Leben und alle Ihre Taten waren nicht umsonst. Das, was die DDR heute ist, ist eine hervorragende Krönung des langen Weges bis zur Gründung des Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden.« Dann folgte das Freundschaftsbekenntnis: »Die Deutsche Demokratische Republik ist für uns der vorrangigste Partner und Verbündete. Davon lassen wir uns in unserer Politik leiten.« »Völlige Übereinstimmung« konstatierte Gorbatschow auch »in Bezug auf die Einschätzung der Prozesse …, die sich in unseren Ländern und in der sozialistischen Welt im Ganzen vollziehen.«
Der erste zaghaft kritische Satz lautete: »Wir kommen zu der Schlussfolgerung, dass wir die Impulse des sich entwickelnden Lebens unbedingt aufnehmen müssen.« Dann stellte Gorbatschow die Frage »Was weiter?« und nörgelte vorsichtig: »Was Genosse Erich Honecker in seiner Rede als Antwort auf diese Frage sagte, konnte natürlich nicht vollständig sein. Es war ja nur eine Jubiläumsansprache …« Wie der »Notwendigkeit der weiteren gründlichen und tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft« zu genügen sei, müsse der kommende SED-Parteitag bestimmen, »der eine Wende in der Entwicklung des Landes sein und die Perspektiven für die weitere Entwicklung der Gesellschaft bestimmen muss«. Mit Blick auf das Vorbild von Glasnost und Perestroika hieß es nur: »Ich glaube, dass auch unsere Umgestaltung eine Antwort auf die Erfordernisse der Zeit ist.« Gleichzeitig machte Gorbatschow der SED-Führung Mut, denn er meinte, »dass es Ihnen leichter wird, Umgestaltungen durchzuführen, weil Sie keine solchen Spannungen im sozialökonomischen Bereich haben«. Der KPdSU-Chef verwies auf seine Erfahrung, »dass viel Wurst und viel Brot noch nicht alles sind. Die Leute verlangen dann eine neue Atmosphäre, mehr Sauerstoff, einen neuen Atem, insbesondere für die sozialistische Ordnung«. Sie wollten eine den materiellen Bedingungen »entsprechende geistige Atmosphäre in der Gesellschaft«. Dass es die in der DDR nicht gab, sagte Gorbatschow nicht. Stattdessen referierte er ausführlich die Probleme im Sowjetland. Vorher kam jedoch noch einmal – in etwas abgewandelter Form – der berühmte Satz: »Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Die Partei muss ihre eigene Auffassung haben, ihr eigenes Herantreten vorschlagen. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.«
Damit war die große Kritik-Bombe geplatzt, und Gorbatschow versicherte versöhnlich: »Ich bin voller Zuversicht, dass Sie richtig handeln. Man muss weitergehen und die Impulse der Zeit erfassen.« Und noch einmal: »Wir haben nur eine Wahl: entschieden voranzugehen, sonst werden wir vom Leben selbst geschlagen.«
Montagsdemonstration in Leipzig, 23. Oktober 1989: 250.000 Menschen haben sich versammelt. Manche tragen Plakate mit dem Bild Michail Gorbatschows. Der sowjetische Staats- und Parteichef ist durch seine Reformbestrebungen für viele DDR-Bürger zum Hoffnungsträger und zur Leitfigur avanciert. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / dpa)
Trotz des vermeintlichen »Verrats« Gorbatschows an der DDR widerspricht sich Egon Krenz, denn er sieht heute einen wesentlichen Grund für die Einheit Deutschlands in der SED-Politik gegenüber der Bundesrepublik. Sechsmal hatte Moskau eine Reise Erich Honeckers nach Bonn mit Macht verhindert, bis er 1987 dann doch fuhr. Krenz: »Den Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik