mit Bommeln. Wie oft zogen wir diese Strümpfe heimlich aus und liefen barfuß durch die Gegend.
Als Mutti später, mit etwa siebzig Jahren, Gicht in den Händen bekam, meinte sie: »Das ist, weil ich auf die Flucht einen ganzen Koffer mit Wolle mitgenommen hatte und erst in Wismar merkte, dass ich die Stricknadeln vergessen hatte. So besorgte ich mir in Wismar Fahrradspeichen und strickte mit denen.«
Elke erinnerte mich neulich daran, dass unsere Mutti in Wismar beim Gericht arbeitete. Damals gab es in den Akten unzählige in Sütterlin verfasste Schriftstücke. Sütterlin wurde erst 1941 durch die lateinische Schrift ersetzt, alle konnten es damals lesen und schreiben. Aber Arbeitskräfte wurden gebraucht und die meisten Frauen waren wohl nur Hausfrauen. Mutti hatte diese Schrift in der Schule gelernt und konnte Schreibmaschine schreiben. Da war sie perfekt als »Übersetzerin« geeignet. Nach einer kurzen Probezeit bekam sie einen Arbeitsvertrag und konnte jetzt eigenes Geld verdienen.
Sie freundete sich dort mit einer Kollegin an – Tante Hannelore. Ich dachte mein halbes Leben lang, dass sie eine leibliche Tante ist, mit der ich verwandt bin, und dass ich demzufolge einen Cousin sowie eine Cousine habe. Egal, ob befreundet oder verwandt, sie gehörten zu uns.
In unserem Haus in der Bauhofstraße wohnte auch Antje mit ihren Eltern. Schon vor dem Krieg hatten sie hier gelebt. Antje war in meinem Alter, hatte rote Haare und ein Fahrrad. Wenn ich jemals in meinem Leben auf etwas neidisch war, dann auf Antjes Fahrrad. Sie war noch am Üben, und ich wollte so gerne auch üben, aber ich durfte ihr Rad nicht mal anfassen. Ich konnte Antje nicht leiden.
Urte (r.) und Elke mit Antje
Mutti erklärte mir, dass das Fahrrad für Antjes Familie ein so wichtiger, seltener Besitz war und damit nichts passieren durfte. Solch einen teuren, wichtigen Besitz konnte meine Mutti nie anschaffen. Ich selbst vermochte es erst, als mein Sohn zehn Jahre alt war. Ich war vierzig, als ich dann im Urlaub an der Ostsee Radfahren übte. Mein Sohn hielt mich fest, und los ging’s. Als ich merkte, dass er losgelassen hatte, fiel ich das erste Mal um. Aber ich schaffte es bald, allein zu fahren, zum großen Amüsement meines Sohnes. Er erklärte mir anschließend: »Jetzt endlich weiß ich, was ein Klammeraffe ist.« So war mein Unvermögen wenigstens zu etwas gut.
Noch zu unserer Zeit in Wismar hatte Mutti eine Operation mit anschließender Kur. Elke und ich kamen knapp ein halbes Jahr in ein Heim nach Güstrow. Auf der Zugfahrt wurden wir von einer Nonne begleitet. Elke und mir blieb in Erinnerung, dass sie jedem von uns ein rohes Ei gab, das wir austrinken sollten. Ich als die Brave tat, wie mir geheißen. Es war gar nicht so schlimm. Elke, schon immer eigenwillig, wehrte sich standhaft dagegen, dies zu tun.
Mit Mutti im Garten von Tante Hannelore, faulenzen auf dem Liegestuhl, ca. 1950
Zeitgenössische Postkarte des Güstrower Schlosses, welches auch als Kinderheim diente
Dieses Heim war noch gar kein Heim. Es war das Güstrower Schloss, das gerade zum Kinderheim umgebaut wurde. Meine Schwester und ich waren die ersten Kinder dort. Neben der Erzieherin gab es im Schloss ein Gärtner-Ehepaar. Elke erzählt, dass die beiden mich unbedingt adoptieren wollten – mich, dieses süße Lockenköpfchen. Es musste ihnen erst erklärt werden, dass wir gar keine Waisenkinder waren.
Die arme Elke; dort in Güstrow begann es: Ich musste nachts immer aufs Klo, war aber ein totaler Angsthase. War es also mal wieder so weit, weckte ich meine große Schwester, und sie musste mitgehen. Mit nackten Füßen liefen wir über den Marmorboden durch die große Empfangshalle. Für mich ein Abenteuer, für Elke leidige Pflicht, Fürsorge für ihre nervende kleine Schwester. Als wir nach kurzer Zeit nicht mehr die einzigen Kinder im Heim waren, machten es mir die anderen Kinder nach und fingen an, alle nacheinander, Elke nachts zum »Klogang« zu wecken. Das ging natürlich nicht. So übernahm Elke, die spätere Regisseurin, schon damals die Regie. Wenn ein Kind musste, weckte sie alle Kinder und führte uns den langen, dunklen Weg zum »Gruppen-Pullern«.
Eingeschult wurde ich noch in Wismar. Mutti hatte für mich eine Schultüte gebastelt und bunt angemalt, aber viel interessanter war für mich die Aussicht auf ein wunderschönes blaues Halstuch. Ich brauchte nur in die Pionierorganisation einzutreten und schon hatte ich es. Mutti war dagegen. Wilhelm Pieck, dieser Russe, und jetzt ich als Jungpionierin? »Nein, kommt nicht in Frage!«
Am nächsten Tag kam ich mit dem Halstuch nach Hause, sauste vor den Spiegel und war glücklich. Mutti sagte nichts mehr dagegen.
Aber gegen die Luftballons, die ich nach Hause brachte, hatte sie etwas! Sie wollte nicht, dass ich damit spiele. Mitschüler hatten die in der Drogerie gekauft und auch ich bekam welche geschenkt. Kleine Ballons, die man ganz schön groß aufblasen konnte. Mutti hatte natürlich erkannt, dass die »Ballons« Kondome waren. Ein pfiffiger Drogist war wohl auf die Idee gekommen, den »Nachkriegsladenhüter« auf diese Weise zu verkaufen.
Elke und ich, etwa zur Zeit unserer Einschulung, um 1950
Ich wollte den anderen auch etwas schenken. Aber wie nur? In Muttis Manteltasche fand ich ein wenig Kleingeld, das klaute ich. Davon kaufte ich Bonbons und verteilte sie
in der Klasse. Es war herrlich, alle liebten mich. So einfach war das.
Anders sah es aus, als ich nach Hause kam. Mutti war sehr böse auf mich, wollte mir den Po versohlen. Ich sauste durch die Wohnung und entkam. Elke erzählte mir immer wieder, dass sie an meiner Stelle die Haue abbekam, weil sie greifbar war. Ich glaube, Mutti war einfach davon überzeugt, dass ich Elke in meinen Diebstahl eingeweiht hatte.
Seit ich denken kann, habe ich auf dem rechten Fußspann eine Narbe. Ich machte mir darüber nie besondere Gedanken, meine Schwester hatte sie auch. Also nahm ich an, jeder habe das. Eine »Fußnarbe« rechts.
Später fragte ich meine Mutti doch einmal, was das sei. Sie antwortete: »Das ist die Narbe von der üblichen Pockenimpfung.«
Diese Impfung wurde normalerweise automatisch in den Oberarm injiziert. Mutti aber befand: »Nein! Wenn die kleinen Mädchen mal junge Frauen sind und ein ärmelloses Kleid tragen möchten, ist der Arm verunstaltet. Auf dem Fuß ist es uninteressant.« Tja, meine Mutti.
Das ganze Heim ein Kinderchor
Mutti entschloss sich 1951, auf die Medizinische Fachschule nach Magdeburg zu gehen. Sie wohnte dort in einem Studentenheim mit Doppelstockbetten und zu viert im Zimmer. Elke und ich kamen in ein Kinderheim nach Elbenau, heute ein Ortsteil von Schönebeck, unweit von Magdeburg.
Ich ging mittlerweile in die 2. Klasse. Und das Beste war, ich kam mit Elke gemeinsam in eine Klasse. Es war eine Zwergschule, weil es im Dorf ja auch nur wenige Kinder gab. Die jeweils nicht angesprochenen Klassen bekamen schriftliche Aufgaben, waren also beschäftigt. Nebenbei konnten sie gleich mithören, was der Lehrer den anderen erklärte. So etwas funktioniert auch heute, in der Grundschule werden oft zwei oder drei Klassenstufen zusammen unterrichtet. Ich erinnere mich aber auch daran, dass der Herr Lehrer aufmüpfigen Schülern mit dem Zeigestock auf die Hände schlug. So schaffte er Ruhe. Lehrer durften das. Damals existierte wohl noch die Prügelstrafe.
Ich liebte die »Tanten« im Elbenauer Kinderheim. Wenn wir in dem großen Aufenthaltsraum tobten und spielten, gab es, auch wenn wir noch so übermütig waren, keine bösen Worte.
Natürlich hatte dieses Heim auch einen Heimleiter. An den kann ich mich aber gar nicht mehr erinnern, da er für Leitung, Organisation sowie das Büro zuständig war. Dazu betreute er die großen Jungs.
Allerdings entsinne ich mich an ein Ereignis, bei dem ich einigen Respekt vor ihm bekam. Neben dem Heim lag der Dorfteich, der im Winter zufror. Uns war strengstens verboten, den vereisten Teich zu betreten. Wir ließen zumindest unsere Schulmappen auf ihm schlittern. Einmal kam ein Ranzen,